Die Provinz Nuoro bezaubert durch eine wilde Urlandschaft, authentische Dörfer und landestypische Traditionen.
Nuoro hat etwas von einem hinterwäldlerischen Mantra, das man leise vor sich hin summt, während man den Blick über die Schönheit der Region schweifen lässt. Beruhigend wirkt diese topografische Redundanz der karstigen, wie mit einem wilden, grünen Flies überwachsenen Landschaft. Sie verdichtet sich in den Tälern und urigen Dörfern, um sich auf den angrenzenden, bergigen Barbagia-Hochebenen wieder zu weiten. Nachdem seit den 60er-Jahren auf der Fischer- und Hirteninsel Sardinien an den Küsten viel verbaut wurde, erkannte man in Nuoro rechtzeitig die Notwendigkeit, diesen Landstrich zu schützen, in seiner Urlandschaft zu erhalten und seine landestypischen Traditionen über einen sanften Tourismus zu bewahren. Dazu gehören auch die baulichen Auflagen, bröselige Häuser wieder originalgetreu zu restaurieren und nicht einfach abzureißen. Während sich in Porto Cervo, dem Zentrum der angrenzenden, schicken Costa Smeralda, ein regelrechtes Ballungszentrum von Mehrsterne-Hotels zum neuen Hotspot des internationalen Jetsets etabliert hat, wird in Nuoro die Zeit einfach wieder zurückgedreht. Ein wunderbares Kontrastprogramm.
Die gebirgigen Landstriche im Hinterland lassen sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad erkunden. Sie sind teilweise so unerschlossen, dass man sie nur im Rahmen geführter Touren entdecken kann. Das 850 Hektar große Naturschutzgebiet Oasi di Bidderosa durchradelt sich vorzugweise mit dem E-Bike. Ein wilder Wald aus Ginepro – einer inseltypischen Wacholderart, aus der auch Möbel gefertigt werden – mit Eukalyptus- und Pinienbäumen, umrahmt die unberührt wirkende Lagunenlandschaft. Statt Motorbooten gleiten nur ein paar Kanus oder Stand-up-Paddler durchs glasklare Wasser. Ohne Lärm – ohne Spuren. Unweit des Naturparcours beginnt der Golf von Orosei – eine von kleinen Grotten durchzogene Buchtenlandschaft. Eine lila Alge umsäumt die steinernen Grottenportale wie eine Schmuckbordüre. Bötchen ankern vor den Steinhöhlen, die wie Pavillons wirken. Direkt vom Boot ins knallblaue Wasser zum Baden zu hüpfen ist die Devise. Wer keines besitzt, der buche sich eines mit Wassertour-Guide beim örtlichen Bootsverleih. Vom Hinterland und dem Küstenörtchen Cala Gonone, an denen es die schönsten Strände der Insel gibt, ist man nur einen Steinwurf von der „Grotta di Sa Oche" entfernt. Der unterirdische See der frei zugänglichen Grotte ist einer der natürlichen Wasserspeicher der Region. Für den Abstieg braucht man gerade mal zehn Minuten.
Das Wandern auf den relativ unerschlossenen Höhenzügen des Treckinggebietes Valle di Lanaitto ist nur mit einem gebuchten Wanderführer erlaubt. Voller Geschichten und Munkeleien sind die prähistorischen, geheimnisvollen Ausgrabungsstätten der sardischen Nuraghen im Dorf Villaggio Preistorio di Sa Sedda De Sos Carros. Diese Wiege Ur-Sardiniens manifestiert sich in den kreisrunden Stadtanlagen und Grabstätten, die die Spuren einer Hochkultur aus der Zeit vom siebten bis neunten Jahrhundert vor Christus bezeugen.
Trachten werden mit Stolz getragen
Die Region Barbagia liegt in einer durch Landwirtschaft und Schäferei geprägten Hochebene und bietet eine perfekte, fast archaische Kulisse. Viele Dörfer liegen abgeschieden in dem von karstiger Rauheit geprägten Hirtenland, in dem das (Über-) Leben anno dazumal sicher nicht einfach war. Neben den Dorfältesten, die gleichmütig auf den Bänken sitzen und die Fremden beäugen, trifft man in der örtlichen Peripherie auch mal auf Mufflons, Esel oder sogar Wildpferde. Was zunächst eher familiär, für die Bevölkerung und ein paar Insider-Touristen konzipiert wurde, öffnet seit ein paar Jahren langsam auch dem Individual-Tourismus die Tore: Das ab Spätsommer bis Mitte Dezember an 16 Wochenenden zelebrierte „Cortes Apertas" – „Offene Höfe"-Fest im Osten der Insel. Der „Autunno in Barbagia" wird von der lokalen Handelskammer „Cuore della Sardegna" (Herz von Sardinien) seit über 20 Jahren organisiert. In einem Verbund von 32 urig-beschaulichen, mittelalterlichen Dörfern werden die Traditionen der alten Gewerbe, ihre Geschichten und das Wissen der letzten Zeitzeugen wiederbelebt. Während unter der Woche die Arbeit auf den Weiden und Feldern, Weinbergen und Olivenhainen weitergeht, feiert sich jedes Dorf selbst und erinnert sich an Althergebrachtes und präsentiert sich stolz mit seinen ganz eigenen kulturellen und gastronomischen Eigenheiten. An 16 Wochenenden geht der Turnus durch ein bis drei Dorfzentren mit den pragmatisch kurz klingenden Namen Aritzo, Bitti, Dorgali, Fonni, Gavoi, Meana Sardo, Ovodda, Oliena (wo alles begann), Orgosolo, Tonara, Teti, Tiana.
Wenn die alten, zumeist privaten und sonst der Öffentlichkeit verschlossenen Häuser, die sogenannten Cortes mit ihrer abgeblätterten Patina-Ästhetik für eine kurze Zeit geöffnet werden, taucht man filmreif in die Authentizität des Landes. Die ganze Dorfbevölkerung ist auf den Beinen. Es ist ein kunterbuntes, lebendiges Treiben.
Initiiert wurde das Fest bereits 1996. In diesem erstaunlich dicht frequentierten Rhythmus, wird es von den Bewohnern ritualisiert und treu angenommen. Der Alltag ist sehr arbeitsintensiv, und mitten im Jahr besuchen sich die Dörfer untereinander so gut wie nie. Umso euphorischer und ausgelassen feiert man sich und die anderen zu diesem besonderen Jahresausklang. Neben allerlei folkloristischer Vorführungen mit viel Tanz und Gesang entdecken Besucher alte Gewerbe wie Textilfärbungen mit Safran, Hutmacher, Schnitz- und Webkunst oder Lederschusterei. Der „Offenmündige" kommt in den Genuss von Käseherstellung, Brotbacken und Weinpressen, probiert sich durch traditionelle Produkte wie Berghonig, Olivenöl, Kastanien, Datteln oder Nüsse. Ein visuelles Spektakel sind die gefüllten Käseteigtaschen „Seadas" (mit Pecorino-Hartkäse vom Schaf und Zitronenabrieb), die frittiert und süß mit Honig serviert werden. Die mit Ricotta (Frischkäse aus junger Schafsmilch) gefüllten „Casadinas" werden von den Dorffrauen am offenen Feuer gebacken. Ein eher olfaktorisches Aha-Erlebnis bietet wohl eines der exotischsten Produkte: der schon durch seinen Geruch äußerst befremdliche „Casu Marzu" (Verdorbener Käse) – ein durch Fliegeneier beziehungsweise Maden reifender Hirtenkäse. Der wird unter dem Ladentisch zur Verkostung für Mutige angeboten und darf nicht verkauft werden. Einst hat er den armen, aber erfindungsreichen Hirten über die darbenden Tage geholfen.
Zum süßen Abgang trägt der „Torrone Sardo", ein Mandel-Honig-Nougat, bei. Besonders zu Ehren kommt in ganz Sardinien die Trachtenkultur, die von Frauen wie Männern aller Generationen mit Stolz getragen wird. Die bunten, floralen Stickereien sind neben den liebevoll geschmückten Ständen und zentralen Marktplätzen ein besonders lebensfroher Blickfang. Alles ist Handarbeit. Die Trachten werden von den Dorffrauen im Hinterland teilweise noch täglich getragen und zum Fest auch von den Jungen mit Stolz präsentiert. Kinder und Jugendliche tanzen ausgelassen oder treiben und reiten ihre Esel und Pferde durch die Stadt. Wer das Erlebte ethnographisch vertiefen möchte, besucht in der weniger pittoresken „Hauptstadt" Nuoro das Völkerkunde-Museum, in dem neben Trachten landestypische Musikinstrumente und andere Handwerkskünste aus jedem örtlichen Winkel gezeigt werden. Ein Highlight sind die Vitrinen mit „Pane degli sposi" – eine sardische Brotbacktechnik mit Symbolornamentik für feierliche meist religiöse Anlässe jeglicher Art. Und die schaurigen, handgeschnitzten „Boes-Masken" und zotteligen Kostüme der „Merdule", die im März den Karneval in Ottana (südwestlich von Nuoro) einläuten.
Die aktive und freudige Reanimierung der Bräuche und Mythen und das gute Essen erklären vielleicht die Langlebigkeit der Sarden: Das Bergland von Sardinien, besonders die Provinz Nuoro, gilt als Lebensraum der Hundertjährigen. Die Vielschichtigkeit der Region (auf den zweiten Blick), die Lage zwischen rauem Hinterland und Küste, die Produkte und die ehrliche Küche machen Nuoro zu einer Region, die Besucher still staunend, ja fast etwas ehrfürchtig werden lässt. Man spürt die geerdete Kraft und diesen Zauber, der das in Vergessenheit Geratene wieder sicht- und erlebbar macht.