Neun Monate ist kein Durchkommen rund um Grönland. Aber dann kann man an Bord eines Expeditionsschiffes das Wunder des arktischen Sommers hautnah erleben.
Zart taucht die Mitternachtssonne die stille, arktische Landschaft aus Fels, Eis und Meer in magisches Licht – goldfarben wie schmelzendes Edelmetall. Schlag 8 Uhr morgens kracht, bebt und vibriert es. Voller Schwung schlägt der Bug des Expeditionsschiffes hart auf die Wellen, unsanft werden die Passagiere geweckt. „Zur Abwechslung tanzen wir jetzt Rock ’n’ Roll, bei Einfahrt in die Diskobucht aber ist das Wasser wieder soft and sweet", tönt heiter und beschwingt die Stimme des Kapitäns übers Mikrofon.
Dabei haben sich die Gäste an Bord in den vergangenen Tagen wahrlich nicht gelangweilt. Sie haben den längsten Fjord der Welt, den Kangerlussuaqfjord, durchfahren, in Sisimiut erstmals arktisches Festland betreten. Bei Ummannaq im blühenden „Tal der Winde" das Sommerhaus des Weihnachtsmannes besucht und die „Gelbe Wüste" in der weißen Wüste durchwandert. Über 500 Kilometer nördlich des Polarkreises, in Ukkusissat, tanzten sie mit Inuits, Grönlands Ureinwohnern. An der Gletscherfront des Eqip Sermia schauten sie begeistert den Eiskolossen zu, wie sie mit donnerndem Getöse ins Meer kalbten. Doch der sechste Tag an Bord soll den Höhepunkt bringen.
Sehnsuchtsziel an der Westküste ist der sagenhafte Kangia Ilulissat Eisfjord. Aber noch tänzelt das Schiff, Eisklasse 1A1, vorbei an Schären nach Süden. Aus den Orten hört man ab und zu das Heulen der Hunde. Plötzlich verändert sich etwas. Je mehr das Schiff in die spiegelglatte Diskobucht vordringt, umso größer und häufiger werden die Eisberge. Im Licht der Morgensonne strahlen sie blau, türkis, weiß wie Diamanten. Bizarre Skulpturen, manche höher als 100 Meter. Wie Fregatten unter vollen Segeln treiben sie dicht an der Reling vorbei hinaus in den arktischen Eisgarten. Kameras werden vors Auge gehalten, klamme Finger fummeln am Auslöser. Es zoomt und blitzt, schließlich will man die Zauberwelt gut im Bild festhalten. Allerdings gibt kein Foto die Natur wieder, so später die einhellige Meinung.
Im Sommer nehmen die Tage kein Ende
Noch bevor der Anker im Hafen fällt, gehen vier Worte durch Mark und Bein: „Whales on the left!" Der Kapitän stoppt die Maschinen, in hundert Metern Entfernung bricht die Wasseroberfläche ungestüm auf. „Er bläst, er bläst", ruft er den ersten Wal persönlich aus. Der Wassernebel des meterhohen Atemstrahls glitzert in der Sonne wie Blattgold. Ein zweiter und dritter Blas folgen, dann tauchen gewaltige grauschwarze Rücken auf. Finnwale! Abwechselnd wedeln sie mit ihren imposanten Flucken, um dann blitzschnell und elegant in der Tiefe zu verschwinden. „Was für ein Anblick", murmelt eine feinsinnige Dame aus Bremen und wippt verzückt auf den Zehen.
Blau ist der Himmel, grün, rot oder gelb leuchten in Ilulissat die Giebel der Holzhäuser aus dänischer Kolonialzeit. Im Sommer, wenn die Tage kein Ende nehmen, nimmt hier das Leben mit den 4.000 Einwohnern seinen gewohnten Lauf. Das heißt: Grönlandfrauen präparieren auf Gestellen Walfleisch und Stockfisch für den Winter. Kajaks werden ausgebessert und neu mit Robbenhaut bespannt, Schlittenhunde sonnen sich auf Granitfelsen. Statt Autos – wie bei uns – „parken" Motor- und Holzschlitten neben den Häusern. Davor sitzen die Männer und rauchen Pfeife.
Heute aber ist Nationalfeiertag. Freundlich grüßen Jung und Alt die Besucher. Die Grönländerinnen tragen ihre spitzen- und perlenverzierte Tracht und Kamiken – beinlange, mit Eisbärfell gefütterte Stiefel. Ganze Familien sind gar in traditionelle Seehundkleidung gehüllt. „Eine Frauentracht kostet an die 1.000 Euro", verrät Bürgermeister Antan auf Nachfrage und zieht mit den Fahnenträgern zur Zionskirche. Einsam thront sie auf einem Felsplateau direkt am Meer. Der Innenraum ist in den typischen Farben Weiß, Türkis und Gelb gehalten, die Schnee, Eisberge und die Sonne symbolisieren. Leise, wie die Landschaft, dringen Kirchenlieder nach draußen bis zu den Kajakfahrern. Im Eiswasser führen sie die Kunst der Eskimorolle vor. Daneben springen Jugendliche übermütig in die alten Frauenboote, die Umiaqs, in denen früher Mütter mit ihren Kindern von Siedlung zu Siedlung fuhren.
Mit dem Heli über den Kangia-Eisfjord
„Die Sommerzeit müsse man ausnutzen, die Menschen sind fröhlich und ausgelassen, das Land bekommt Farbe – weiße, gelbe, pinkfarbene Blüten bedecken jetzt den Boden wie kostbare Teppiche", freut sich das alte Inuitpaar Ajako und Nivi. Vergnügt schauen sie den Tanzpaaren vor dem Knud-Rasmussen-Museum zu. „Ein ehrenvolles Andenken an unseren großen Polar- und Grönlandforscher (1879-1933). Er liebte uns und das ganze Land; machte unsere Insel, die größte der Welt, draußen bekannt". Stolz hört man aus seinen Worten, spontan lädt er zum „Kaffeemik", einer gemütlichen Kaffeerunde, ein. Dabei erzählt er aus seinem bewegten Jägerleben: 74 Eisbären habe er erlegt, Wale und Ringelrobben waren ideale Jagdbeute für alle Bedürfnisse des Lebens. „Heute hat die Jagd keine wirtschaftliche Bedeutung mehr. Die jungen Leute lernen lieber in der Schule und streben Jobs im Tourismus oder in der IT-Branche an."
Endlich! Der Flug im Helikopter über den Kangia-Eisfjord ist der ultimative Höhepunkt der Reise, lässt alles ringsum vergessen. Einer der Mythen Grönlands liegt unter uns, ausgebreitet in seiner ganzen Erhabenheit und kalten Schönheit – elf Kilometer breit und über vierzig lang, seit 2004 auf der Unesco-Weltnaturerbe-Liste. Das also ist die Wiege der Eisberge. Dessen Jahrtausende alten Schneemassen werden von der 50 Kilometer entfernten Abbruchkante des Sermeq Kujalleq-Gletschers mit Urgewalt hierher geschoben, um ihren Weg hinaus aufs Meer anzutreten. Die Größten davon, nahezu 1.000 Meter dick, schaffen es über eine Strecke von 30 Breitengraden. Einer dieser „Nomaden" erwischte die berühmte Titanic vor über 100 Jahren. „Er ist der aktivste, schnellste Gletscher in der nördlichen Hemisphäre. Pro Tag bricht er soviel Eis ab, wie New York in einem ganzen Jahr verbraucht", erklärt der Pilot und dreht gekonnt eine Extraschleife für die Fotografen: auf riesigen Eisschollen nutzen Robben aquamarinblaue Seen als Pool, die sich dort durch die Sonnenstrahlen gebildet haben. Der Blick aus dem Heli auf die wild zerklüfteten Eisfelder des Fjords ist überwältigend und ähnelt an diesem Tag dem Paradies, das sich mancher Naturliebhaber von seiner Reise in arktische Gewässer erträumt hat.