Truppenübungsplätze sind gefährliche Orte. Doch kaum irgendwo sind seltene Tier- und Pflanzenarten so gut aufgehoben wie hier – teils trotz, teils wegen der Gewehrsalven und Panzerfahrten. Zu Besuch in den überraschendsten Naturoasen Deutschlands.
Der Große Brachvogel brütet in einem Zielgebiet, in dem der Lehmboden von Kratern übersät ist. „Hier sehen Sie gut die Wirkung von Mörsergranaten", sagt Franz Schwieters, technischer Regierungsoberamtsrat der Bundeswehr. Und Erhard Nerger vom Naturschutzbund (Nabu) Emsland-Mitte sagt: „Dem Brachvogel macht der Lärm nichts." Schwieters: „Die Mörser wurden Anfang der Woche reingeschossen. Aus zwei Kilometern Entfernung."
Wir stehen an der Grenze zweier besonderer Naturschutzgebiete im Emsland. Hier schießt die Bundeswehr scharf. Betreten verboten. Die Tinner Dose, ein fast baumfreies Hochmoor, und die Sprakeler Heide, zusammen rund 40 Quadratkilometer, liegen auf dem Gebiet der „Wehrtechnischen Dienststelle für Waffen und Munition 91", kurz WTD 91. Sie ist der größte mit Messinstrumenten ausgestattete Schießplatz Westeuropas. Ein vom Meppener Stadtrand mehr als 30 Kilometer nach Nordosten ragender, im Schnitt sechseinhalb Kilometer breiter Sperrkorridor mit Zielmarken für Gewehre, Artillerie, Drohnen, Lenkflugkörper, Bomben, Raketen. Maximale Schussentfernung: 28 Kilometer.
Per Sondergenehmigung dürfen wir einen Blick hineinwerfen. Flaches Land. Kaum Büsche und Bäume. Ideal fürs Schießen. So eine freie Sicht, sagt Schwieters, sei genau das, was die Bundeswehr brauche.
„Die brauchen Wiesenvögel auch", sagt Nerger. Deshalb ist die WTD 91, trotz des Geballers, ein Paradies für Rotschenkel, Bekassinen, Kiebitze. „Die fühlen sich hier richtig wohl." Ebenso der Große Brachvogel, dessen deutschen Bestand der Nabu auf unter 4.000 Paare schätzt. Selbst Wiesenweihen, deren Lebensraum hierzulande fast vollständig zerstört ist, bauen hier ihre Nester.
Weiß man das, dann ist klar, warum die EU die Tinner Dose offiziell als Vogelschutzgebiet ausweist. Überhaupt: Von den deutschlandweit 1.400 Quadratkilometern Truppenübungs- und Schießplatzflächen der Bundeswehr zählen zwei Drittel zum europäischen Natura-2.000-Netzwerk. Alles auf diesen Arealen ist militärischen Interessen untergeordnet – die sich aber oft mit denen des Naturschutzes decken. Schießbahnen werden flankiert von Gürteln aus Lärmschutzwäldern, Panzerfahrpisten von Windschutzstreifen.
Truppenübungsplätze wie die WTD 91 sind Fenster in eine Landschaft vor unserer Zeit, seltene Orte, an denen Natur nutzlos vegetieren darf. Refugien für selten gewordene Pflanzen- und Tierarten. Keine Besiedlung. Kein Flächenfraß. Keine industrielle Landwirtschaft.
Erster Wolfsnachwuchs auf WTD 91
So ist es nicht verwunderlich, dass der erste Wolfsnachwuchs auf deutschem Boden seit dem 19. Jahrhundert im Jahr 2000 auf einem Truppenübungsplatz in der sächsischen Oberlausitz zur Welt kam. Im Juli 2018 wurde die erste emsländische Wolfsfamilie seit zwei Jahrhunderten gesichtet: zwei Alttiere und sechs Welpen. Auf der WTD 91.
„Ohne Kruppschen Schießplatz, unterstell’ ich mal, wäre das jetzt hier alles Kulturlandschaft", sagt Franz Schwieters, während er seinen Geländewagen über eine Sandpiste der Tinner Dose steuert. „1877 wurden hier die Pflöcke eingeschlagen", das Jahr, in dem sich der Industrielle Alfred Krupp das Gelände sicherte.
Die Inbesitznahme durch die Waffenschmiede schildert das Buch „Alfred Krupp und die Entwickelung der Gussstahlfabrik zu Essen", ein Baedeker aus dem Jahr 1889: Zwar habe Krupp bereits Plätze bei Essen, Dülmen und Bredelar besessen, doch alle drei hätten im Lauf der Zeit nicht mehr den Bedingungen entsprochen, „welche behufs der vollständigen Erprobung der fast mit jedem Jahre wachsenden Leistungsfähigkeit der Kanonen Krupps aufgestellt werden mussten". Das Gelände blieb seit 1877 fast unverändert erhalten, verteidigt von den Schützen des Kaiserreiches, den Soldaten der Weimarer Republik, Hitlers hochgerüsteter Armee und schließlich von der Bundeswehr.
Damit alles bleibt, wie es ist, darf man allerdings nicht alles lassen, wie es ist. Ließe man der Natur in der Sprakeler Heide auf dem WTD-Gelände ihren Lauf, würde sie einen Laubmischwald bilden, Endpunkt einer Entwicklung, auf den in unseren Breiten alles hinausläuft. Schlecht für Wiesenvögel. Schlecht fürs Schießen.
Deshalb hat es seine Vorteile, wenn die Erde hin und wieder von Panzerketten oder Granaten aufgerissen wird. Seltene Landschaftstypen wie Heiden oder Binnendünen hätten es ohne eine solche Verjüngungskur schwer. Das Nebeneinander vieler Entwicklungsstadien – jedes ein Kleinbiotop – würde verschwinden.
Und deshalb sehen Naturschützer viele Kollateralschäden von Militärmanövern als Akte „schöpferischer Zerstörung". Das Birkhuhn beispielsweise fühlt sich zwar nicht im Kugelhagel wohl, aber in nächster Nachbarschaft der Einschläge. Die Schießerei entfacht immer wieder Brände, die Gras- und Heidelandschaften verjüngen. Was zu Blütenreichtum führt, der dem Birkhuhn ein besonders üppiges Insektenmahl beschert.
Mehr als 1.000 gefährdete Arten
Und deshalb begrüßt Regierungsoberamtsrat Schwieters sogar die Einschläge glühender Geschosse im Gelände – solange sich die Flammen nicht tief in den Torf fressen wie am Ende des vergangenen Sommers, als trotz des trockenen Untergrunds Raketentests durchgeführt wurden und die Glut anschließend wochenlang im Untergrund loderte.
„Eine Symbiose von Naturschutz, Hochmoorschutz und militärischer Nutzung" sieht Schwieters in all dem. Das klingt fast so griffig wie die Slogans, die sich die Bundeswehr auf ihre Internetseite gestellt hat: „Die Bundeswehr ist grün!" Oder: „Bundeswehr und Umweltschutz – ein unzertrennliches Paar."
Im Falle der WTD 91 musste die Truppe allerdings auch ein bisschen zu ihrem Glück gezwungen werden. Anfang der 80er-Jahre konnte der damalige Deutsche Bund für Vogelschutz gemeinsam mit Regional- und Landespolitikern verhindern, dass das Hochmoor von Dämmen durchschnitten wurde, die das Militär aus Brandschutzgründen anlegen wollte.
Dass die Vermählung mit dem Umweltschutz für die Bundeswehr keine Liebesheirat gewesen ist, zeigt auch das Grundwasser in und um Meppen. Es ist in Teilen mit Trichlorethen belastet, einer krebserregenden Chemikalie, von der Mitte der 70er-Jahre auf dem Schießplatz mehrere Tausend Liter versickerten.
Trotzdem sieht Erhard Nerger vom Nabu in dem Militärgelände, alles in allem, eine Trutzburg für die Natur – denn rundherum musste diese sich dem Diktat einer hochindustrialisierten Landwirtschaft beugen: „Das Emsland ist voll von Massentierhaltung. Überall Gülle. Nitrat im Boden, im Grundwasser. Das ist im Grunde eine Umweltkatastrophe."
Als er das sagt, steht er mit Franz Schwieters auf dem Tornadohügel, einst aufgehäuft, um die Wirkung der „Mehrzweckwaffe 1" der Tornado-Kampfflugzeuge zu beobachten. Das hohe Gras der Moorlandschaft wogt im Wind. „Zehn Kilometer. Alles offen", sagt Schwieters. „Solche Gegenden", sagt Nerger, „gibt’s in Deutschland sonst kaum noch."
Zivilisten ist der Anblick solch todsicherer Naturoasen in der Regel verwehrt. Auch am „Tag der Bundeswehr", wenn die WTD 91 ihre Türen für Besucher öffnet, wird keine Wanderung zu Wiesenpieper und Flussregenpfeifer angeboten. Sondern eine „dynamische Waffenschau".
Eine der seltenen Gelegenheiten, die Naturschätze eines Truppenübungsplatzes zu Gesicht zu bekommen, bietet sich im Ursprungsgebiet der Ems bei Paderborn, rund 150 Kilometer südöstlich der WTD 91. Hier liegt der Truppenübungsplatz Senne, 1892 zum militärischen Sperrgebiet erklärt, seit 1945 unter Verwaltung der britischen Streitkräfte – ein weiteres Fenster in die Vergangenheit.
Ausgestorbene Arten wieder entdeckt
Etwa zehnmal pro Jahr bietet die „Biologische Station Kreis Paderborn-Senne" Zeitreisen an: geführte Rad- und Bustouren oder Wanderungen auf den Truppenübungsplatz. Wir nutzen die Chance, Gerhard Lakmann, der seit 25 Jahren für die Station tätig ist, auf einer Senne-Wanderung zu begleiten. Der Truppenübungsplatz, etwa 113 Quadratkilometer groß, ist das bedeutendste Naturreservat in Nordrhein-Westfalen und eines der artenreichsten Gebiete Deutschlands überhaupt. Mehr als 1.000 gefährdete Pflanzen- und Tierarten der „Roten Liste" leben hier, darunter die Einfache Mondraute (Botrychium simplex). Der Farn galt, ehe er 1993 auf dem Truppenübungsplatz entdeckt wurde, hierzulande als ausgestorben.
Alle paar Minuten legt Gerhard Lakmann eine Pause ein – nächste Lektion. Zwischenstopp zwei: ein kleiner Wildacker. „Die hier angebauten Pflanzen wirken auf Hirsche wie Gummibärchen auf Menschen." An diesem Ort wird von den Förstern das Wild gezählt. Stopp drei: das Haustenbachtal, steil abfallend, etwa 15 Meter tief. Lebensraum für Schwarzstorch und Kranich, Eisvogel und Gebirgsstelze. Nirgends ein Felsen, nicht mal ein Stein. „Die Senne ist ein großer Sandkasten, entstanden am Ende der Saale-Eiszeit vor mehr als 130.000 Jahren", sagt Lakmann.
Am fünften Zwischenstopp wird ein klassisches Dilemma des Naturschutzes deutlich: Die Natur schützen, wie sie ist? Oder wie sie war? Wo die Wehrmacht den Haustensee aufgestaut hatte, für Übungen mit amphibischem Gerät, fließt seit ein paar Jahren wieder ungehindert der Bach. Freie Fahrt für die Fische – Bachneunauge, Groppe, Bachschmerle, Bachforelle. „So weit, so gut", sagt Lakmann. „Andererseits ist das Grundwasser hier jetzt niedriger als in den Jahrzehnten davor. Das macht den Bäumen Probleme."
Vor einem ähnlichen Dilemma steht die NRW-Landesregierung im Fall der Senne insgesamt. 2010 hatte Großbritannien angekündigt, seine Soldaten bis 2020 aus Deutschland abzuziehen. Und dann – schließt sich ein Fenster in die Vergangenheit? Was soll nur aus der Senne werden, nach mehr als 125 Jahren Truppenübungsplatz? Ein Nationalpark, wie es Bund, Nabu und Ex-Bundesumweltminister Klaus Töpfer fordern? Oder ein Biosphärenreservat, das weniger strikt geschützt wäre, weswegen einige Umlandgemeinden und die Holzindustrie diesen Schutzstatus bevorzugen?
Womöglich wäre es das Beste für die Senne, so dachten und sagten in den vergangenen Jahren nicht wenige, die Briten würden bleiben.
2018, als wären sie erhört worden, verkündete der Kommandierende der Britischen Streitkräfte in Deutschland: Auch über 2020 hinaus werden mehrere Hundert ihrer Soldaten am Standort Paderborn stationiert bleiben. Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Landkreise Paderborn, Gütersloh und Lippe. Zumindest in der Senne war der Brexit noch einmal abgewendet.