Die SPD kämpft für ein soziales Europa im Inneren und ein starkes, geeintes Europa, das sich global behauptet. Spitzenkandidatin Katarina Barley über die Rolle Europas im Konzert der Großen und ein lebendiges Europa der Regionen.
Frau Barley, im Wahlkampf ist auch bei der SPD viel davon die Rede, ‚Europa konkret’ zu machen. Heißt das dann im Umkehrschluss, Europa ist für viele Menschen nicht richtig greifbar?
Es stimmt, dass viele Menschen für Europa ein gutes Grundgefühl haben, aber nicht so richtig wissen, wofür Europa eigentlich steht. Das hat auch damit zu tun, dass die Europäische Union etwas ist, das eher den Wirtschaftsraum regelt. Wir beschäftigen uns mit freiem Warenverkehr, mit Zöllen, mit Bankenunion und vielem mehr. Es gibt nicht so viel, bei dem Menschen direkt mitbekommen, was Europa für sie macht. Aber nehmen Sie etwa die Abschaffung der Roaming-Gebühren. Dort wurde konkret etwas für die Menschen erreicht. Wir möchten, dass Europa zu einem sozialen Europa wird. Dann können die Menschen wirklich erfahren: Europa schützt nicht nur Unternehmen oder Banken, wenn sie in Schieflage kommen, sondern unterstützt mich in meinem täglichen Leben.
Aber die Vorstellung von einem sozialen Europa mit beispielsweise einem Mindestlohn hat auch Aversionen und Widerstände hervorgerufen. Wie wollen Sie dem begegnen?
Wir hatten eine ganz ähnliche Debatte vor der Einführung eines Mindestlohns in Deutschland. Da mussten wir uns anhören, dass dann Unternehmen abwandern würden oder Betriebe pleite wären. Das Gegenteil ist der Fall. Der Mindestlohn hat Deutschland sehr gutgetan, die Binnennachfrage ist gestiegen. Diese ganzen ollen Kamellen werden aber jetzt wieder bei der Europawahl ausgegraben. Wir Sozialdemokraten wollen einen europäischen Mindestlohn koppeln an das mittlere Einkommen, also nicht in jedem Land gleich, sondern in jedem Land angepasst an die dortige Wirtschaftskraft und das Durchschnittseinkommen. Das sorgt dann für Gerechtigkeit, weil an jedem Ort in Europa Menschen von ihrer Arbeit auch leben und sich idealerweise auch eine Rente erarbeiten können.
Europa ist eingezwängt zwischen Russland mit Putins Ambitionen und der „America first"-Politik von US-Präsident Trump. Das erfordert Antworten. Wie können die aussehen?
Europa muss stark sein, wenn wir in diesem Konzert der Großen eine Rolle spielen wollen. USA, Russland, aber auch China sind die großen Mitbewerber. Wir sind einzeln ja nur relativ kleine Länder. Deshalb können wir in diesem Konzert der Großen nur mithalten und uns behaupten, wirtschaftlich, aber auch, was unsere Werte betrifft, wenn wir zusammenhalten. Und dafür braucht es ein starkes, geeintes Europa.
Vor einiger Zeit war viel von einem „Europa der Regionen" als Zielvorstellung die Rede. Dieses Stichwort ist in jüngster Zeit ziemlich an den Rand gerückt. Warum?
Ein Europa der Regionen ist ein ganz wichtiger Ansatz, und es ist eines der wichtigen Grundprinzipien unter dem Stichwort der Subsidiarität, das heißt: Alles, was auf den niedrigeren Ebenen geregelt werden kann, soll auch dort geregelt werden. Ich habe immer ein Lieblingsbeispiel dafür, wo man das in Europa umsetzen könnte: In der Asylpolitik. Die Frage lautet ja, wie wir in Europa zu einer gemeinsamen Asylpolitik finden. Es gibt eine Antwort, die hat Gesine Schwan (langjährige Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, Anm. d. Red.) entwickelt, dass die Städte und Kommunen sich selbst melden können und sagen, dass sie bereit sind, eine bestimmte Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Nehmen wir Polen als Beispiel: Dort sind die 14 größten Städte bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, im Gegensatz zu der nationalen Regierung. Würde man dem folgen, dann hätte man auch eine ganz andere Akzeptanz. Das wäre ein gelebtes Beispiel für ein Europa der Regionen. Der französische Präsident Emmanuel Macron steht diesem Vorschlag offen gegenüber.
In den Wahlkampfauseinandersetzungen fokussiert sich viel auf den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und dessen Politik. Der italienische Innenminister und Chef der Lega-Partei Matteo Salvini und dessen Politik kommen nicht ganz so prominent vor. Woran liegt das?
Man könnte in dem Zusammenhang – leider – noch mehr Namen nennen. Italien macht uns in der Tat große Sorgen, auch weil es ein sehr großes und wichtiges Mitgliedsland ist und weil diese Koalition aus linken und rechten Populisten etwas ist, was für Europa doppelte Sprengkraft hat. Es scheint sich jetzt aber so zu entwickeln, dass diese seltsame Kombination nicht ewig halten wird. Wir haben natürlich ein starkes Interesse daran, dass sich Italien wieder europafreundlicher ausrichtet.
Sie werfen den Konservativen vor, auf viele populistische Entwicklungen einzugehen. Woran machen Sie das fest?
Wir sehen, dass an vielen Orten die Konservativen mit den Rechtspopulisten gemeinsame Sache machen. Ich finde es besonders schockierend, was in Österreich passiert. Dort gibt es einen Innenminister von den Rechtspopulisten, der ganz offensichtlich gemeinsame Sache macht mit Rechtsextremisten, mit wirklich Radikalen. Und das als Innenminister, der für die Sicherheit des Landes zuständig ist. Das macht mir sehr, sehr große Sorgen. Auch der Umgang mit der Pressefreiheit, dass offen kritischen Journalisten gedroht wird, sie aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu entfernen, sind Vorgänge, die konservative Regierungschefs nicht dulden dürften.
Hierzulande hat die Antwort der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer auf die Initiativen des französischen Präsidenten für Irritationen gesorgt. Wie ordnen Sie die Äußerungen ein?
Macron hat zum zweiten Mal den Versuch gemacht, die europäischen Regierungschefs und -chefinnen auf einen proeuropäischen Kurs einzuschwören. Zum zweiten Mal gab es darauf keine Antwort aus dem Kanzleramt. Diesmal hat die neue CDU-Vorsitzende, Frau Kramp-Karrenbauer, geantwortet und die Antwort hat mich ehrlich gesagt entsetzt. Frankreich hat sie damit in wichtigen Punkten vor den Kopf gestoßen. Auf Vorschläge von Macron, wie etwa den europäischen Mindestlohn, ist sie nicht eingegangen, sondern hat das sehr brüsk zur Seite gewischt. Dafür hat sie unwahr behauptet, dass europäische Beamte keine Steuern zahlen würden. Das ist falsch. Und sie hat etwas gefordert, was es schon gibt, zumindest schon sehr weitgehend, nämlich ein Europa der Banken. Und dann hat sie einen europäischen Flugzeugträger vorgeschlagen. Wenn das die Vision der Konservativen für Europa ist, dann ist mit denen wirklich in Europa nichts zu machen.
Warum sind auch Sie der Meinung, dass es diesmal eine wirkliche Schicksalswahl für Europa ist?
Weil sich jetzt entscheidet, ob wir an diesem Haus Europa gemeinsam weiterbauen wollen, oder ob wir in ein Europa der Nationalismen und Egoismen abgleiten. Es gibt zum Beispiel Parteien, die sich zur Wahl stellen, die wollen das Europaparlament abschaffen, die wollen, dass jedes Land nur seine eigenen Interessen im Kopf hat. Das würde kleine Trumps in jedem Land bedeuten. Das ist nicht das Europa, das wir Sozialdemokraten wollen. Wir wollen ein soziales Europa, das zusammenarbeitet, im gemeinsamen Interesse aller.