Die Liberalen könnten im künftigen EU-Parlament womöglich Zünglein an der Waage für Mehrheiten werden. Spitzenkandidatin Nicola Beer im FORUM-Redaktionsgespräch über EU-Reformen, deutsche Nabelschau und die Chancen von Margrethe Vestager.
Frau Beer, wie beurteilen Sie den Eindruck, dass es in Berlin keine wirkliche Europapolitik gibt, sondern nur eine Berliner Politik für Brüssel?
Das ist etwas, was wir schon lange kritisieren. Als Hessin weiß ich, da ich bereits in Brüssel drei Jahre tätig war, dass Europa hier sehr erfahrbar ist. Die Zusammenarbeit in der Region hier ist für alle ein Gewinn, ob das der Arbeitsmarkt ist oder bei den Hochschulen.
Das Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz hier in Saarbrücken hat hierbei eine große Chance, Nukleus und Motor zu sein für gemeinsame europäische Spitzenforschung, Sprunginnovation und Künstliche Intelligenz. Ich bin bei Ihnen mit der Kritik an der Bundesregierung, die doch sehr auf den eigenen Bauchnabel bezogen ist und keine europäischen Visionen hat. Nicht anders kann man erklären, dass die Kanzlerin bis heute nicht auf die Vorschläge von Herrn Macron geantwortet hat. Stattdessen kommt eine Antwort der neuen CDU-Bundesvorsitzenden, die sich zusammenfassen lässt: Man ist gegen alles, übrig bleibt nur der Vorschlag für einen gemeinsamen Flugzeugträger. Ich glaube, da sollte man Europa breiter aufstellen.
Waren Sie von den Einlassungen von Frau Kramp-Karrenbauer überrascht?
Auf jeden Fall war bemerkenswert, dass sie anstelle der Kanzlerin antwortet, und wie sie antwortet. Viele Augen in Europa schauen auf Deutschland, weil wir natürlich als größte Volkswirtschaft in Europa ein Gewicht haben, und viele erwarten, dass das in Führungskraft umgesetzt wird. Das ist derzeit leider nicht der Fall. Das lähmt natürlich den Zustand in Europa, der ja auch dadurch gekennzeichnet ist, dass wir dringend aus diesem Stillstand heraus müssen, dass wir schneller entscheidungs- und handlungsfähig werden müssen. Weniger lange reden, schneller umsetzen, und uns auf die großen Fragen konzentrieren. Deshalb kämpfen wir nicht nur als Freie Demokraten, sondern mit allen europäischen liberalen Kräften dafür, Europa zu reformieren, um uns für die Zukunft erfolgreicher aufzustellen.
Mit Frau Vestager als neuer EU-Kommissionspräsidentin?
Herzlich gerne (lacht). Wir sehen ja seit Jahren faktisch eine große Koalition von Europäischer Volkspartei und Europäischen Sozialisten. Das hat zu diesem Stillstand geführt. Da wäre es gut, wenn eine durchsetzungsfähige Frau einmal kräftig aufräumt. Sie hat ja nun unter Beweis gestellt, dass sie dicke Bretter bohren kann, und zwar erfolgreich. Sie hat sich mit den großen Mitgliedsstaaten angelegt, wenn es um Kartellrecht und Wettbewerb geht, damit auch kleine Unternehmen eine Chance haben, oder beim Steuerrecht, Stichwort verdeckte Steuersubventionen, verdeckte Rabatte bei großen Unternehmen aus der Digitalbranche. Sie ist jemand mit klaren Prinzipien, die sich auskennt und durchsetzungsstark ist.
Auch jemand, der Europa ein sozialeres Gesicht geben kann, wie es viele einfordern?
Ich glaube, Europa ist vor allem dort sozial, wo wir für die Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit sorgen – gerade in den Regionen, die sich aktuell schwer tun, zukunftsfähige und gut bezahlte Arbeit zu schaffen – und nicht dort, wo wir Umverteilungsmechanismen und Sozialtransfers zusätzlich schaffen.
Deshalb ist es richtig, beispielsweise mit dem Europäischen Sozialfonds (ESF) Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Ich glaube aber nicht, dass es sinnvoll ist, eine neue Scheckbuchpolitik auf europäischer Ebene zu organisieren, um Menschen direkt Geld zukommen zu lassen und sie dann nach Hause schicken. Wir wollen Menschen stark machen, durch Qualifizierung, auch durch die Begleitung von Strukturwandel. Bislang setzen wir zu viele Fonds ein für strukturerhaltende Maßnahmen, aber wir müssen Strukturen verändern, damit sie zukunftsfähig sind, mit zukunftsfähigen Arbeitsplätzen. Das macht Menschen stark, und starke Menschen bedeuten ein starkes Europa.
Um welche Zukunftsfelder geht es Ihnen dabei?
Natürlich im Bereich der neuen Technologien. Wir müssen Europa wieder zum Synonym eines Innovationskontinents von Chancen, von Zukunft machen und für neues Denken Freiräume eröffnen. Wir haben zum Beispiel digitale Freiheitszonen vorgeschlagen als ein Gebiet, wo länderübergreifend Entwicklung vorangetrieben werden kann, bevor die Bürokratie zuschlägt. Wir haben vorgeschlagen eine Europäische Agentur für Sprunginnovation, also nicht auf 27 nationale, sondern gleich auf die europäische Karte zu setzen, Ressourcen und die weltbesten Köpfe zu bündeln.
Also mehr Europa?
Das heißt: Mehr Europa auf den Feldern, wo wir gemeinsam stärker sind, weil wir es alleine nicht so gut lösen können. Das bedeutet aber auch, sich auf diese Felder zu konzentrieren mit dem Umkehrschluss, überall dort vor Ort zu entscheiden, wo schneller, effektiver und bürgernäher entschieden werden kann.
Der amtierende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagt: Diesen Weg gehen wir doch seit fünf Jahren, es merkt nur keiner. Sitzen alte Vorurteile gegenüber Brüssel zu tief?
Es gibt immer noch viel zu viele Fälle, in denen die Europäische Kommission bei Gelegenheit reguliert, also dort, wo sich die Gelegenheit ergibt: Und das ist in den kleineren Fragen häufig schneller möglich. Aber wir haben beispielsweise nach wie vor keine gemeinsame europäische Migrationspolitik, wir kommen bei innerer und äußerer Sicherheit kaum voran. Wir müssen dringend an eine gemeinsame starke Stimme in der Außenpolitik ran, weil wir sonst weltweit gar nicht mehr gehört werden. Gerade weil wir mehr sind als eine Wirtschaftsgemeinschaft müssen wir Werten, für die wir stehen – Frieden, Menschenrechte, Abrüstung – Gehör verschaffen. Und bei Klima- und Umweltschutz brauchen wir eine gemeinsame Strategie. Da muss sich vor allem Deutschland an die eigene Nase fassen, weil wir einen Sonderweg an den anderen reihen. Was weder dem Klima nützt, weil es kein deutsches Klima gibt, und auf der anderen Seite die Energiepreise so in die Höhe treibt, dass sie Deutschland im internationalen Vergleich schaden.
Seit Langem steht die Kritik am Einstimmigkeitsprinzip im Raum, das ja nach wie vor in vielen Bereichen gilt. Wie weit würden Sie davon abweichen?
Wir brauchen mehr Mehrheitsentscheidungen im Rat, sonst bleiben wir ewig ein träger Flusskahn. Ich möchte hingegen erreichen, dass wir einen hochseetauglichen Segler bekommen. Gleichzeitig heißt das für mich, dass wir unmittelbar nach der Wahl daran gehen müssen, die Kommission zu verkleinern. Kein Mensch braucht 27 Kommissare. Das ist im Vertrag von Lissabon bereits vorgesehen, wir müssen es nur endlich machen, bevor wir wieder 27 – oder mit den Briten 28 – Posten verteilen. Verkleinern bedeutet auch, dass man sich wirklich auf die großen Aufgaben konzentriert. Wenn sie 27 haben, dann suchen sich auch 27 ihre Aufgaben.
Womit wir jetzt doch irgendwie beim Brexit gelandet sind.
(lacht). Ja, natürlich. Europa hat so viel mehr große Herausforderungen als nur den Brexit. Der Brexit ist natürlich ein besonderes Thema. Es gibt nach wie vor die Unsicherheit, wie es uns gelingen kann, möglichst enge Zukunftsbeziehungen zu Großbritannien zu haben. Aber diese permanenten Diskussionen ohne irgendwelche Fortschritte haben ja dazu geführt, dass diese anderen Fragen gar nicht richtig angegangen worden sind. Das müssen wir jetzt dringend ändern. Ich habe es immer für einen Fehler gehalten, dass man in der Union die Entscheidung Großbritanniens nicht gleichzeitig auch als Weckruf verstanden hat, um an die eigenen Reformen ranzugehen. Das sagt ja einiges über die Verfassung aus, wenn ein so wichtiges Mitglied die Union verlassen will. Ich hätte schon gerne die letzten drei Jahre für Reformen genutzt.
Bemerkenswert war aber doch, dass bei allen Differenzen in den meisten Fragen die 27 in Sachen Brexit Geschlossenheit an den Tag gelegt haben. Da hat doch der Brexit als Weckruf gewirkt?
Es war kein Weckruf dahingehend, die eigene Verfassung zu reformieren. Aber es war insofern zumindest ein kleiner Weckruf, dass die Union in den Verhandlungen mit Großbritannien beieinander gestanden ist. Letztendlich glaube ich aber, dass man besser daran getan hätte, nicht nur so intensiv über die Scheidungsurkunde zu verhandeln, sondern sich stärker auf das zukünftige Verhältnis zu konzentrieren. Das wollte man nicht, weil man erst einmal klar machen wollte, dass es weh tut, auszusteigen. Das hat aber mit zu der verfahrenen Lage geführt, dass die Briten jetzt nicht mehr in der Lage sind, eine Mehrheit für etwas zu organisieren, sondern nur gegen alles. Aus dieser Sackgasse müssen wir jetzt dringend raus.
Manfred Weber, der Spitzenkandidat der EVP, also der Konservativen, hat jetzt noch einmal das Thema Türkei aufgerufen und sich gegen eine Mitgliedschaft positioniert.
Da muss man sagen, dass Manfred Weber in seinem Programm in weiten Teilen bei uns abgeschrieben hat. Er hätte übrigens in den vergangenen Jahren die Gelegenheit gehabt, genau das umzusetzen, was wir ja schon lange fordern, dass die Verhandlungen mit der Türkei so nicht fortgeführt werden können.
Er hätte es in der Hand gehabt, in maßgeblicher Funktion als Fraktionsvorsitzender EVP, Veränderungen herbeizuführen. Und wenn er sich jetzt mitten im Wahlkampf mit der Forderung hinstellt, Europa den Bürgern wieder zurückzugeben, dann frage ich mich, wer es ihnen in den vergangenen Jahren eigentlich weggenommen hat. Denn die Herren Weber, Timmermans, Juncker waren in den entsprechenden Positionen, wo sie ein besseres, moderneres Europa hätten organisieren können.
Ein Blick noch jenseits des Atlantiks. Was Präsident Trump veranstaltet, ist im Grunde doch eine Herausforderung für Europa.
Auf jeden Fall. Wir müssen in Europa in gemeinsamen Strategien in der Außen- und der Sicherheitspolitik sowie der Entwicklungszusammenarbeit vorankommen, uns mit einem eigenen Gewicht aufzustellen, mancher sagt: erwachsen werden als Europa. Zumal wir als Europäer gemeinsame Werte haben. Bei uns geht es etwa in militärischen Fragen nicht um ein: Hallo, wir ziehen in den Kampf. Da geht es um friedensschaffende oder friedenserhaltende Maßnahmen. Hier muss es darum gehen, dies einzubetten in eine europäische Strategie der Diplomatie, der Außenpolitik, der Entwicklungszusammenarbeit, damit wir präventiv unterwegs sind, um Situationen, wo Militär eingreifen muss, zu verhindern.
In jüngster Zeit hat sich in Europa eine andere Politik gegenüber Afrika abgezeichnet. Im Grunde lange überfällig, aber die Skizze dafür ist mir noch zu undeutlich. Wie würden Sie das zeichnen?
Undeutlich ja auch deshalb, weil es auch da weiter nationale Alleingänge gibt. Auch der deutsche Entwicklungsminister stellt einen deutschen Marschallplan für Afrika vor. Wir täten gut daran, dies gemeinsam europäisch zu machen, weil es das Gewicht erhöht und die Prioritäten klar macht, in diesen Ländern auf gute Regierungsführung, auf Rechtsstaat, auf Demokratie, auf die Abwesenheit von Gewalt und Willkür zu setzen. Auch das gibt langfristig der Bevölkerung dort Vertrauen zurück, sich nicht eine andere Heimat suchen zu müssen, weil eine Perspektive für das eigene Leben zu Hause da ist.
Großes Thema in diesem Wahlkampf ist die Herausforderung durch Populisten, die auf Renationalisierung setzen. Wie wollen Sie dem begegnen?
Wie kämpfen als Freie Demokraten dafür, dass es glaubwürdige und praktikable Konzepte für die Reform der EU gibt und dass auch geliefert wird. Die Populisten surfen nämlich auf der Welle, dass die Europäische Union nicht liefert. Wenn man aufzeigt, dass man mit anderen Köpfen in der Europäischen Union auch anders handeln lassen kann, dann ist das vielleicht ein Argument, nicht den Parolen der Populisten von rechts und von links zu folgen. Die haben nämlich keine Konzepte.
Ist Brüssel denn nicht vor allem ein willkommener Projektionspunkt für den Populismus, wo eigentlich ganz andere Probleme dahinter stecken?
Es wird als Projektionsfläche genutzt, um Innenpolitik zu machen. Das ist ein Konzept, das auch in Deutschland immer wieder angewendet wurde: Alles Schlechte kommt aus Brüssel, das Gute heften wir uns an die Brust. Das muss man durchbrechen, ohne aber in Europa-Naivität zu verfallen. Der Zustand der Europäischen Union war schon mal besser, und er muss dringend wieder verbessert werden. Wir sehen die EU zwischen Osten und Westen, Norden und Süden, kleinen und großen Mitgliedstaaten immer mehr auseinanderdriften. Das kann man nur zusammenbinden, wenn man Reformen durchsetzt. Man muss aber neben der Frage der Reformen im Grunde auch wieder eine Vision haben. Mir ist dabei die Idee Innovationskontinent, Vorreiter als Europa der Chancen, wichtig. Dabei geht es um mehr als technische Innovation, es geht auch darum, dabei Standards aufgrund unseres Wertekompasses durchzusetzen, bei Bürgerrechten, Rechtsstaat, Demokratie – was sich dann auch niederschlägt in Verbraucherstandards, Umweltstandards, Arbeitsstandards. Das sind Fragen, die ich auch im Wettbewerb der Systeme stärker angehen will.