Die Weltordnung sortiert sich neu. Europa steht „mitten zwischen zwei Problemwelten", sagt der langjährige Europaabgeordnete Jo Leinen (SPD) im FORUM-Interview. Deshalb brauche es eigene Stärke und neue Bündnisse.
Herr Leinen, wie nehmen Sie derzeit die Stimmung gegenüber Europa wahr?
Europa ist schon mehr in den Köpfen als es in den vorangegangen Wahlkämpfen war. Es gibt ja auch reihenweise große Themen, die die Leute bewegen, ob es der Brexit ist, die Flüchtlingskrise, der Terrorismus, der Klimaschutz. Meines Erachtens weiß die Mehrheit der Menschen schon, wie wichtig Europa ist.
Vom Bundes- und Landtag wissen die meisten, wie es funktioniert, aber nur wenige haben eine Vorstellung über die Arbeit des Europaparlaments, obwohl sich das Parlament zunehmend mehr Rechte erkämpft hat.
Das stimmt. Wir sind, wie jedes Parlament, Gesetzgebungsorgan und kontrollieren die Exekutive, vor allem sind wir als Bürgerkammer Bühne und Plattform für alle relevanten Themen, die unsere Gesellschaften und die Menschen bewegen. Was uns unterscheidet: Es gibt nicht den Schlagabtausch zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Jedes Thema sucht sich seine Mehrheit. Das hat den Charme, dass es keine festen Blöcke gibt und keinen Fraktionszwang. Es ist eine sehr offene, dynamische Veranstaltung. Zugegeben macht es das auch manchmal für den geneigten Beobachter etwas schwierig. Aber alle, die dort jemals gearbeitet haben, loben diese Offenheit. Und wir können als einzelne Abgeordnete noch bis ins Plenum eigene Anträge einbringen, das gibt es in nationalen Parlamenten nicht.
Nach dem Brexit haben Sie vorgeschlagen, einen Konvent einzuberufen, um über die grundsätzlichen Fragen zu reden. Das ist in dieser Form nicht zustande gekommen. Warum eigentlich nicht?
Aktuelle Grundlage ist der Lissabon-Vertrag, der sich mal Verfassung nannte, aber bei den Referenden in den Niederlanden und Frankreich keine Mehrheit fand. Aber viel, was wir heute machen, von europäischer Klimaschutzpolitik, Digitalpolitik, Sicherheits- und Verteidigungs- oder Migrationspolitik kommt aus den Bestimmungen dieses Vertrages. Der ist aber schon 15 Jahre alt, die Welt hat sich kräftig gedreht und verändert. Es wäre also höchste Zeit, nochmal eine große Debatte über die Zukunft Europas angesichts der heutigen Lage durchzuführen.
Wie sehr hat die Beschäftigung mit dem Brexit Europa aufgehalten?
Es wurde viel Zeit und Herzblut in den vergangenen drei Jahren in diese Debatte gesteckt, ich meine, zu viel Zeit und Energie, gemessen an anderen großen Themen, in denen Europa Antworten finden muss.
Die Verärgerung über London scheint deutlich zugenommen zu haben.
Großbritannien hat sich verkalkuliert. Es gab viele Freunde auf dem europäischen Kontinent, die haben die Briten fast alle verloren und stehen jetzt alleine da gegenüber den 27, die auf wundersame Weise zusammenstehen. Das ist auch notwendig, weil klar sein muss, dass Herumspielen mit der EU nicht auch noch belohnt wird.
Europa steht auch von außen vor Herausforderungen. Kommt es einem nicht manchmal vor, als sei Europa umzingelt?
Wir haben seit Jahren Probleme mit Putin in Moskau, und jetzt auch mit Trump in Washington. Europa liegt also in der Mitte zwischen zwei Problemwelten, die auf ihre jeweilige Art Druck ausüben. In Moskau schätzt man unsere liberale Demokratie nicht und versucht an den Rändern, den westlichen Demokratiebazillus einzuengen. In Washington liebt man die EU nicht, weil sie ein mächtiger Wirtschaftsblock ist. Trump möchte lieber mit seiner „America first"-Strategie mit den einzelnen Staaten verhandeln. Und wenn ein amerikanischer Präsident die EU zum Feind der USA erklärt, müssen alle Alarmglocken klingeln. Deshalb muss Europa stark sein, um die eigenen Werte gegen solche Mächte zu verteidigen.
Da gibt es noch erheblichen Nachholbedarf.
In großen Fragen sind wir oft einiger, als es erscheint. Gegenüber Russland gibt es die Sanktionen wegen der Ost-Ukraine und der Krim, und gegenüber den USA hat der Kommissionspräsident erreicht, dass wir jetzt auf Augenhöhe über Handelsfragen verhandeln. Alleine hätte das kein Land geschafft. Die EU ist in gewisser Weise ein Schutzschild gegenüber Willkürakten großer Mächte.
Wie dramatisch ist es, wenn man alte Freunde jetzt als Kontrahent, vielleicht sogar Gegner betrachten muss?
Europa braucht Freunde, die nach gleichen Regeln spielen. Leider gibt es inzwischen zu viele, die nach anderen Regeln spielen als die, die wir in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben. Die neue Weltmacht China spielt nach anderen Regeln. China ist keine Marktwirtschaft, das verändert die Lage komplett. Wir haben neue imperiale Gelüste in Moskau. Und wir haben die „America first"-Politik, die die gesamte bisherige Weltordnung in Unordnung bringt und zum Teil lange gewachsene internationale Institutionen zertrümmert. Europa setzt mit seinen Freunden auf geregelte Verhältnisse. Wir haben sie in Japan, in Indien, Südkorea, Australien, Kanada, wünschenswert auch in Afrika und Lateinamerika. Europa muss eine neue Weltordnung aufbauen, aus eigener Kraft und mit eigenen Verbündeten.
Es wird viel von Schicksalswahl gesprochen wegen der Befürchtung starker antieuropäischer Kräfte im Parlament. Eine übertriebene Besorgnis?
Es ist eine Schicksalswahl für das Projekt einer europäischen Einigung. Es droht ein nationalistischer Block, der das zerstören will. Hier sammeln sich Nationalisten und Populisten aller Länder, die nur ein Ziel haben: Sand ins Getriebe zu streuen. In der Krise der Demokratie, die wir in vielen Ländern spüren, droht die Gefahr, dass die Europawahl zur Protestwahl gemacht wird und Parteien gewählt werden, die man zu Hause eher nicht wählen würde.
Hilft dagegen die Idee eines sozialeren Europas?
Wir spüren immer noch die alten Krisen, in der viele Menschen arbeitslos geworden sind oder bei Kürzungen von Sozialleistungen in Armut geraten sind. Die Schere zwischen Arm und Reich zwischen den Staaten aber auch innerhalb der Staaten ist größer geworden. Die Europawahl ist eine Richtungswahl, ob wir weiter so machen wollen oder ob wir ein gerechteres und sozialeres Europa wollen.
Die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer hat als Antwort auf Macron ein Europapapier vorgelegt. Sie haben darauf irritiert reagiert. Warum?
Sie hat ihr Papier überschrieben mit „Europa richtig machen". Darin gibt es aber Ansätze, wie Europa völlig verkehrt laufen würde: keine Mindestlöhne, keinen Sozialschutz, das ist Politik der Vergangenheit. Dazu kam noch der Tritt gegen das Schienbein von Frankreich, den Sitz des Europaparlaments ins Straßburg aufzugeben, ebenso den Sitz im UN-Sicherheitsrat.
Haben nicht auch die Sozialdemokraten in Europa ihren alten Glanz eingebüßt?
Die Sozialdemokraten schärfen ihr Profil gegen soziale Ungerechtigkeiten und für die soziale Absicherung insbesondere auch im digitalen Zeitalter. In der Tat sind wir da in einem Prozess, der noch nicht völlig ausgereift ist. Andere glauben, bereits die Antworten zu haben. Die Radikalen von rechts und von links haben einfache Parolen, die sich vielleicht gut anhören, aber keine Lösungen sind.
Wäre Frau Vestager, derzeit Wettbewerbskommissarin und liberale Spitzenkandidatin, eine gute neue EU-Kommissionspräsidentin?
Es sieht danach aus, dass keine politische Familie die absolute Mehrheit bekommt, insofern würde es Koalitionen geben. Möglicherweise sind die Liberalen Zünglein an der Waage, ob Mitte-Rechts oder Mitte-Links. Wenn die Frage darauf abzielt, ob nicht am Ende die Dritte lachende Siegerin wäre: Nichts ist unmöglich, ich halte das aber für sehr unwahrscheinlich.
Das Saarland ohne Abgeordneten im Europaparlament – ist so etwas vorstellbar?
Am 26. Mai droht das Szenario, dass diese Region leer ausgeht. Keinen Vertreter in Brüssel und Straßburg zu haben, wäre ein großer strategischer Nachteil für das Land und die Leute. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie viele Probleme und Sorgen es gibt, wo ein Abgeordneter oft helfen kann. Das Saarland bekommt nach wie vor viel Geld aus Europa, viele Sozialprojekte sind nur mit europäischer Förderung möglich, das alleine wäre schon ein Grund, dort vertreten zu sein.