U19-Trainer Nico Willig soll den großen VfB Stuttgart vor dem Abstieg aus der Bundesliga retten. Dass er sich dabei nicht für eine dauerhafte Übernahme empfehlen kann, findet er selbst angeblich sogar ganz praktisch.
Er ist gerade mal 38 und hat die große Aufgabe, einen der traditionsreichsten Fußball-Vereine Deutschlands vor dem zweiten Abstieg in drei Jahren zu bewahren. Eine Chance darauf, den Job als Cheftrainer aus Dankbarkeit dann dauerhaft zu bekommen, hat Nico Willig aber offenbar nicht. „Wir haben beide beschlossen, dass es bis zum Ende der Saison geht. Dann ist das Thema erledigt, und dann geht Nico wieder zur U19", sagte Stuttgarts Sportvorstand Thomas Hitzlsperger.
Das klang sehr kalt und war für manch einen auch unverständlich. Denn Willig hatte es gerade geschafft, einer scheinbar toten Mannschaft neues Leben einzuhauchen. 0:6 hatte die in der Vorwoche beim Abstiegs-Rivalen FC Augsburg verloren. Nun, im ersten Spiel unter Willig, gab es einen 1:0-Sieg gegen Europacup-Anwärter Mönchengladbach. „Die halbe Bundesliga sucht Trainer. Wenn ich jetzt noch mal vier Wochen warte und dann erst anfange, würden alle sagen: Du machst deinen Job nicht!", begründete Hitzlsperger seine strikte Aussage. Das klingt nachvollziehbar. Was verwundert, ist lediglich die Tatsache, dass der Sportchef dem jungen Willig keine Hintertür öffnete. Das mag entweder daran liegen, dass Hitzlsperger sich sicher ist, dass diese Mannschaft einen erfahrenen Trainer braucht. Oder dass er den Coach für die neue Saison vielleicht sogar schon fix hat und Diskussionen um Willig deshalb gar nicht erst aufkommen lassen will.
Sollte das der Fall sein und Willig den VfB retten, wäre es aber keine dankbare Aufgabe für den potenziellen Nachfolger. Denn die Rettung des VfB ist alles andere als selbstverständlich und wäre damit ein Erfolg. Wie gesagt: Die mit Europacup-Ambitionen gestartete Mannschaft wirkte in den letzten Spielen unter Willigs Vorgänger Markus Weinzierl leblos. Und die Umstände der Entlassung haben auch einen ersten Schatten auf Hitzlsperger geworfen. Der Ex-Nationalspieler hatte im Februar Michael Reschke abgelöst und – ähnlich wie Willig – zunächst frischen Wind hereingebracht. Hitzlsperger ist als ehemaliger Deutscher Meister und Kapitän eine Ikone der VfB-Fans. Mit seiner Intelligenz und Eloquenz verkaufte sich der ehemalige ARD-Experte in den ersten Wochen gut. Den Absturz des VfB konnte er aber auch nicht stoppen. Als sich die Stimmen mehrten, man müsse sich von Weinzierl trennen, versuchte es Hitzlsperger mit der Philosophie der ruhigen Hand, stellte sich demonstrativ hinter Weinzierl. In der Woche vor dem Augsburg-Spiel sagte er gar, man habe sich entschlossen, es bis zum Saisonende mit ihm durchzuziehen.
Am Ende verlor Weinzierl seine Spieler
Doch dann gab Weinzierl eine seltsame Pressekonferenz. Als Medien aus der Spuck-Attacke von VfB-Spieler Santiago Ascacibar gegen Leverkusens Nationalspieler Kai Havertz folgerten, Weinzierl habe das Team nicht im Griff, erklärte Weinzierl, er sei doch nicht an allem schuld. „Bin ich schuld daran, wenn ein Spieler über die Grenze schlägt und jemanden anspuckt? Ich sage zu meinen Kindern auch nicht, wenn sie zur Schule gehen: Heute spuckt ihr mal nicht", sagte er. So weit, so nachvollziehbar. Doch dann fügte er, sich in Rage redend, auch an: „Bin ich eigentlich an allem schuld? Bin ich schuld dran, dass wir vorne die Tore nicht machen und dass wir hinten die Fehler machen?" Durch die Aussage, nicht für deren Fehler zuständig zu sein, könnte Weinzierl seine Spieler endgültig verloren haben. Routinier Gonzalo Castro spürte das offenbar und versuchte, das Ganze positiv auszulegen. „Vielleicht wollte er, dass sich diese Woche alles mehr auf ihn konzentriert und mehr über ihn gesprochen wird als über uns als Mannschaft", sagte der Ex-Nationalspieler der „Stuttgarter Zeitung": „Das tut vielleicht einigen Spielern auch ganz gut."
Das Spiel in Augsburg erwies das Gegenteil. Weinzierl musste gehen und Hitzlsperger damit quasi seine Job-Garantie zurückziehen. Und weil er es offenbar ernst meinte damit, die Saison mit Weinzierl beenden zu wollen (oder eben schon jemand Neuen für die neue Saison fix hat), musste in der plötzlichen Not eben U19-Trainer Nico Willig einspringen. Doch der ging in den ersten Tagen so frisch und frei ans Werk, dass er den Schwermut rund um die Mannschaft erst mal beiseite schaffte. Und als man ihn da so sitzen sah und reden hörte, wirkte Willig plötzlich auch wie die logische Lösung in dieser Phase. Ein gebürtiger Schwabe, der im Profigeschäft noch komplett unverbraucht war. Der es als Spieler zwar nur in die Oberliga schaffte, dafür aber dort schon mit 32 trainierte. Auf dem Weg vom Südwesten zur Sportschule nach Hennef bildete er 2016 zehn Monate lang eine Fahrgemeinschaft mit Julian Nagelsmann und Domenico Tedesco, die sich in der Bundesliga bereits durchgesetzt haben. Auf der Fahrt sollen die drei stundenlang über Fußball-Systeme philosophiert haben. Willig gehört schon zur Riege der extrem taktisch ausgerichteten Trainer, die Mehmet Scholl mal etwas bösartig, in vielerlei Hinsicht aber zutreffend als „Laptop-Trainer" bezeichnete. Doch er neigt offenbar nicht dazu, die Dinge verkopft anzugehen und so zu komplizieren. Zwar verpasste er dem VfB für das Spiel gegen Mönchengladbach ein neues System, aber doch ein vermeintlich banales.
Er bildete im Mittelfeld eine Raute aus den Routiniers Castro, Andreas Beck, Dennis Aogo und Daniel Didavi, um Ruhe und Abgeklärtheit ins Zentrum des Spiels zu bekommen. „Er ist ja noch ein junger Trainer. Aber für mich hat er einen Eindruck gemacht, als würde er schon über Jahre im Profigeschäft tätig sein", sagte der seit 13 Jahren als Profi spielende Ex-Nationalspieler Beck: „Die Ansprache, die Souveränität: also wirklich Respekt."
Am Ende verlor Weinzierl seine Spieler
Auch die Journalisten hatte Willig zuvor schon überrascht. Die Frage nach Vorbildern beantworten die meisten Trainer heute nicht. Bloß nicht konkret werden lautet die Devise. Bloß niemanden vergessen, vernachlässigen, vor den Kopf stoßen. „Es gibt viele sehr, sehr, sehr gute Trainer", sagte dann auch Willig zunächst. Um dann tatsächlich drei zu nennen: Jürgen Klopp, Julian Nagelsmann und Christian Streich. „Kloppo ist mir von Herzen sympathisch. Ich mag die Art, wie er Fußball spielen lässt und wie er auftritt. Jule ist mit der Art, wie er in Hoffenheim arbeitet, ein tolles Beispiel, was man als NLZ-Trainer bewirken kann. Hier sehen wir einen zukünftigen großen Trainer."
Streich achte er „für seine Autorität, wie er die Spieler führt, wie er mit seiner eigenen Art Mannschaften bewegt und in der Spur hält. Er macht aus wenig sehr viel und ist schon einer, bei dem ich versuche, hin und wieder etwas abzuschauen." Außer einer Sache: „Badisch zu sprechen." Das kommt im Schwabenland nämlich nicht gut an.
Aber traut er sich denn zu, nachhaltig Trainer einer Profi-Mannschaft zu sein? „Na klar gab es dieses Fragezeichen am Sonntag", erzählte Willig über den Tag, an dem er gefragt wurde, ob er einspringen möchte: „Und dann lief ich rein in diese Kabine und habe mich wohlgefühlt. Dieses Fragezeichen gibt es für mich nicht mehr." Die Absprache, in jedem Fall wieder zur U19 zurückzukehren, sorge aber für weniger Druck. „Das kommt mir sehr, sehr entgegen", sagte er: „Das macht es mir sogar sehr leicht, weil ich es total als Projekt sehen kann."
So kann man es auch sehen. Willig muss sich nicht darum kümmern, ob er beim VfB wem gefällt, ob er seine Chance auf eine Übernahme steigert. Er kann einfach zusehen, dass er den Verein irgendwie in der Liga hält. Und wenn ihm das gelingt, werden Chancen in der Bundesliga von selbst wieder kommen. Vielleicht ja irgendwann dann doch beim VfB. Denn seinem Nachfolger würde Willig im Falle der Rettung sicher immer irgendwie als greifbare Alternative im Nacken sitzen.