Eine Liebeserklärung an ein besonderes Fleckchen Erde
Immer wenn ich die doppelte Pflastersteinreihe, die den Verlauf der Mauer markiert, überquere, denke ich an das Leben im geteilten Berlin. Ich bin im Westteil der Stadt aufgewachsen. West-Berlin war meine Heimat. „Grüße aus der Weltstadt Berlin" stand damals auf Postkarten. Doch in Wahrheit war West-Berlin nur eine Stadt am Ende der Welt. Wir waren arm und noch nicht mal sexy. Viele von uns hatten Ofenheizung und Außenklo, und in der U-Bahn traf man jede Menge schräger Vögel.
Berlin war zwar eine geteilte Stadt, aber so groß, dass man die Mauer im Alltag kaum wahrnahm. Meine erste Wohnung im Wedding, 45 Quadratmeter für 72,84 Mark, war nur fünf Minuten vom ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße entfernt. Den sah ich nur einmal, weil ich mit dem Bus eine Station zu weit gefahren war.
Der Grenzübergang für jene, die ohne Auto nach Ost-Berlin einreisten, lag eine Dreiviertelstunde mit der U-Bahn entfernt. An der Friedrichstraße begann das sozialistische Ausland. In der Hauptstadt der DDR war alles anders: die Autos, die Werbung, die Waren, die Menschen. Mit Freunden aus Künstlerkreisen, die offiziell natürlich keine West-Kontakte hatten, ging ich in die Staatsoper und aß den Ost-Burger „Grilletta" im Prenzlauer Berg. Nur ein paar Hundert Meter auf der anderen Seite der Brücke an der Bornholmer Straße. Gefühlt eine Weltreise entfernt.
West-Berlin war eine freie Stadt. Einen Inselkoller bekam ich nur einmal, als ich auf der Landkarte sah, dass meine Heimatstadt nur ein kleiner Fleck inmitten des Ostblocks war. West-Berlin war aber auch ein Schutzraum für Menschen, die nicht in den Krieg ziehen und nach besseren, alternativen Lebensformen suchen wollten. Es gab natürlich auch die anderen. Die, die etwas gegen „Gammler" hatten. Ihr Lieblingsspruch: „Geht doch rüber, wenn es euch hier nicht passt." Heute gibt es kein Drüben mehr und auch kein Hüben.
Über den Umweg Paris zog ich kurz vor der Jahrtausendwende nach Ost-Berlin. Anfangs sah ich mich noch gezwungen zu erklären, dass ich nicht aus einer Villa aus Zehlendorf, sondern von einem West-Berliner Hinterhof stamme. Vor Kurzem machte mir eine Boutique-Betreiberin aus der Nachbarschaft das Kompliment, ich sei ja auch aus dem Osten, also eine von ihnen. Ja, wir Berliner sind inzwischen zusammengerückt.
Berlins neue Feinde tragen weiße Westen. Honorige Geschäftsleute mit einem Ziel: ein Berlin schaffen ohne Berliner. Denn die haben einfach zu wenig Kaufkraft. Bei der Boutique-Betreiberin hat die Vertreibung schon funktioniert. Wegen zu hoher Miete wohnt sie jetzt an der polnischen Grenze und kommt nur noch zum Arbeiten in die Stadt. Die mit den weißen Westen fügen der Stadt, die ohnehin schon viel mitgemacht hat, weitere Blessuren zu. Sie fällen Bäume und verwandeln ehemals grüne Nachbarschaften in Betonwüsten. Statt Wohnraum zu schaffen, bauen sie „Kapitalanlagen". Hässliche, unbezahlbare Apartmenthäuser für Menschen, die die meiste Zeit gar nicht hier wohnen.
Altvertrautes verschwindet. Selbst der Ku’damm ist nicht mehr das, was er einmal war. Einst möchtegern-weltoffen und doch nur spießig provinziell, ist die ehemalige West-Berliner Prachtmeile zur ausländischen Zone geworden. In den Läden wird häufig nur noch Englisch gesprochen, weil das Verkaufspersonal kein Deutsch versteht.
Nicht, dass ich etwas gegen internationales Flair hätte. Doch wenn die Touristenmassen aus den Billigfliegern in meine Straße einfallen und die Restaurants wie Heuschrecken besetzen, wenn die Taiwanesen und Amerikaner aus den Ferienwohnungen wieder den Müll nicht getrennt haben, dann frage ich mich manchmal schon, ob ich hier noch zu Hause bin. Senke ich auf der U-Bahntreppe jedoch den Blick zu Boden, sehe ich, dass Berlin noch lange nicht so fein und sauber ist, wie es sich gibt. Im Untergrund brodelt noch der alte Kampfgeist. In solchen Momenten spüre ich wieder Hoffnung für unsere Stadt, die den Krieg, die Teilung und manch’ Entscheidung überlebt hat.