Kann man sich den Ort, wo man Heimat findet, noch aussuchen? Angesichts überquellender Städte und ausblutender Dörfer ist das schwierig: „Die Spaltung des Landes ist die große demografische Frage unserer Zeit", sagt Wohnungspolitik-Experte Harald Simons. Die steigenden Mieten in Berlin sieht er als natürlichen Umbruch.
Herr Simons – Heimat, was ist das für Sie?
(lacht) Oh je! Ich denke, Heimat ist, wo ich mich wohlfühle. Aber natürlich hat es auch damit zu tun: Wo bin ich aufgewachsen, habe die Schule besucht, die frühe Prägung. Ich selber bin als Kind viel umgezogen, da habe ich nie so etwas entwickelt. So richtige Heimatgefühle habe ich inzwischen entwickelt für die Uckermark: Wir haben da zusammen mit Freunden ein Bauernhaus, da gibt es so eine kleine Hügelkette – mir geht immer das Herz auf, wenn ich da hinkomme. Ich glaube, das ist das, was andere unter Heimat verstehen. (überlegt) Ein kleines Dorf, ich kenne jeden …
Das gehört auch dazu?
Ja, das gehört auch dazu. Da gehe ich durch und grüße jeden, kenne jeden zumindest vom Gesicht her. Das habe ich nirgendwo anders. Irgend so etwas wird Heimat sein … Aber ob das so ist?
Das geht Ihnen nicht anders als vielen anderen auch: Heimat ist offenbar schwer zu fassen. Vielleicht sollten wir Herrn Seehofer fragen, der hat ja ein Heimatministerium eingerichtet.
Da bin ich sehr froh, dass der Begriff wieder auch politisch verwendet wird. Natürlich kann man das sehr einfach durch den Kakao ziehen, aber mal ehrlich: Das ist echt billig, sich über Heimat lustig zu machen. Denn ich glaube, dass es eine starke Kraft ist. Und wir haben ja ein richtig dickes Problem in Deutschland, das nicht nur Berlin betrifft, nämlich das der Schwarmstädte.
Also der Ort, wo alle hin möchten?
Ja, Städte, die eine große Anziehung haben. Wir sehen eine Konzentration der Bevölkerung – mit der Folge, dass es auf der einen Seite zu voll ist und auf der anderen zu leer. Wichtig ist zu erkennen: Wir haben in Deutschland ja keine Wohnungsnot, sondern zwei Millionen leer stehender Wohnungen, Tendenz steigend. Das ganze Problem entsteht nur durch die Neuverteilung der Bevölkerung. Und die betrifft ja nicht nur Wohnungen, sondern auch Kitas oder Schulen – in der Stadt balgen sich die Leute um die Plätze, 50 Kilometer weiter sollen sie wegen zu geringer Anmeldezahlen geschlossen werden. Die großen Wanderungsbewegungen aus den 90ern, Ost-West oder Nord-Süd, haben sich völlig aufgelöst. Was wir haben, sind Mitteldistanz-Wanderungen; aus der Prignitz nach Berlin oder nach Rostock.
Die klassische Landflucht?
Ja. Wobei es natürlich Quatsch ist, den Speckgürtel zum Land zu zählen und zu sagen: „Guck mal, die Gegenbewegung, die Leute ziehen wieder aufs Land!"
Das heißt, die Regionen driften auseinander?
Tatsächlich halte ich das für die große demografische Frage unserer Zeit: die Spaltung des Landes. Die produziert nämlich nur Verlierer. Auf der einen Seite haben Sie die Berliner, die nur Zuzug erleben und steigende Mieten. Das sind aber noch die Glücklicheren, würde ich sagen. Das sind Wachstumsschmerzen, die sind aushaltbar. Die Schrumpfungsschmerzen, die sind viel, viel härter.
Weil man sie nicht ausgeglichen bekommt?
Ja, und es greift ganz tief ins Alltagsleben ein. Die tagtägliche Erfahrung „noch einer weg" ist grund-depressiv. Die Kinder sind nicht mehr in der Nähe, die Freiwillige Feuerwehr bricht langsam zusammen. Wenn ich wählen könnte, würde ich doch immer eine lebendige Stadt mit hohen Mieten einem Dorf mit niedrigen und nichts drumherum vorziehen!
Wobei sich ja die Leute, die in der Stadt leben, allmählich ihre Stadt nicht mehr leisten können.
Na, dann ziehen Sie doch in die Uckermark!
... und die Stadt ist nur noch für die Reichen?
Ich sage ja nicht, dass wir da keine Probleme haben – aber trotzdem ziehen Sie nicht in die Uckermark. Da finden Sie sofort einen halbwegs angemessenen Job, von dem Sie dort gut leben können! Wir tun immer so, als seien das arbeitsmarktbedingte Wanderungen – nein. Schwarmstädte, die alle anziehen, das hängt nicht an den Arbeitsplätzen, die gibt es glücklicherweise inzwischen überall. Darum geht es nicht. Wohnen, das ist schon ein abgeleitetes Problem. Und wenn an dieser Stelle der Begriff Heimat auch politisch ins Spiel kommt, freut mich das.
Wieso?
Na, was bis vor vielleicht ein, zwei Jahren gelaufen ist, das war doch alles nur Politik für den Prenzlauer Berg.
Prenzlauer Berg als Synonym für Bionade-Biedermeier?
Ja, die öffentliche Debatte ist dann von veganem Essen und Gentrifizierung geprägt und zwar die gesamte. Da sagen einem dann die Leute im Pfälzer Wald: „Was redet ihr denn da für einen Humbug?" Das ist doch meilenweit von allem entfernt, was dort wichtig ist! Das hat sich nun etwas geändert. Etwas. Und als Begriff dafür, als Klammer, sehe ich die Funktion des Begriffes Heimat. Als strategische Richtungsaussage: Wir müssen an die demografische Spaltung des Landes ran.
„Heimat" als Transportmittel?
Ja, genau. Das freut mich: Heimat als politische Chiffre für „Wir dürfen diese Spaltung nicht achselzuckend hinnehmen." Nur zu sagen: „Wir haben halt ein Urbanisierungsproblem" reicht nicht.
Was also tun?
Das ist enorm schwierig. Als zentralen Ansatz zu sagen, wir legen überall Breitband-Internet, reicht nicht. Natürlich ist der Breitbandausbau notwendig – die Kosten sind ja auch nur Peanuts im Vergleich zu dem, was an Werten in ländlichen Gebieten schon vorhanden ist. Aber es wird nicht hinreichend sein. Tatsache ist: Selbst in kleinen Orten, an denen es alles noch gibt, wo sogar irgendein Weltmarktführer mit seiner Produktion und vielfältigen Jobs ansässig ist, gibt es harte Abwanderung.
Also ist die Lage aussichtslos.
Es ist schwer. Es gibt aber Gott sei dank schöne Beispiele von Mittelstädten, wir nennen sie Ankerstädte, die es schaffen, gegen die Berlins oder Leipzigs oder Augsburgs anzustinken. Das bricht also die Zweispaltung, die wir bisher hatten – Schwarmstädte und ausblutendes Land – auf. Ein paar Städte, nicht allzu viele, schaffen das.
Zum Beispiel?
Neuruppin. Das ist mein Liebling. Eine attraktive Stadt, die grob gesagt alles richtig gemacht hat in den letzten 20 Jahren. Neuruppin wächst, und wenn man sich die Wanderungsströme anschaut, nicht, weil die Berliner dort hinziehen. Die Zuwanderung kommt aus der Prignitz, aus Oberhavel – die halten die Leute in der Region, wenn auch nicht in den Dörfern. Freiberg in Sachsen ist ein anderes Beispiel oder Bad Sooden-Allendorf.
Aber die Dörfer werden trotzdem leer gesogen.
Richtig. Aber da fällt mir ehrlich gesagt auch nicht so viel ein. Und es ist mir sehr viel lieber, die Mittel- oder Kleinstadt zu stützen, damit wir die Leute zumindest in der Region halten.
Kann man das Dorf nicht mit Strukturförderung retten?
Ich bin dafür hart kritisiert worden, aber ich glaube, wenn Sie Mittel in aussterbende Gegenden stecken, da versemmelt das Geld. Nehmen Sie die Lausitz, da wären die Gegenden, die direkt vom Braunkohlestopp betroffen wären, Nisky, Weißwasser oder Hoyerswerda – eine der härtesten Abwanderungsgegenden Deutschlands. Stattdessen wird aber diskutiert, mit den Mitteln aus der Kohlekommission Görlitz als Ankerstadt zu fördern, 30 Kilometer entfernt. Das halte ich für genau richtig, da habe ich eine Chance mit allen Ansatzpunkten. So stabilisieren wir die Lausitz viel mehr.
Also, stracks durchgezogen: Tschüs heimeliges Dorf?
Auch wenn das Dorf immer seinen Platz haben wird: Ich glaube nicht, dass wir den Anteil der dörflichen Bevölkerung von heute zukünftig werden halten können. Der wird runtergehen.
Was aber enorm hilft, das sind schöne hohe Mieten in Berlin – das beste, was Frankfurt/Oder, Neuruppin oder Neubrandenburg passieren kann. Das passiert ja auch schon. Die Binnenwanderung aller Top-Sieben-Städte ist zwischenzeitlich negativ.
Keiner will mehr nach Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, oder München? Was hat sich verändert?
Ein 27-Jähriger, kurz nach dem Studium – das sind die, die entscheidend sind für Wachstum und Schrumpfung – der weiß doch ganz genau, er will da hin, wo was los ist. Aber in Berlin-Kreuzberg oder im Münchener Glockenbachviertel wird er nicht landen, weil das zu teuer ist, das weiß er auch. Also denkt er sich: Erlangen ist doch auch schön – und geht da hin.
Aber wenn das alle machen?
Dann wird Erlangen voll. Und dann wird Erlangen teuer. Und dann kriegt Bad Neustadt an der Aisch eine Chance (lacht). Diese Kaskadenbewegung sehen wir ja: Wer in die Stadt wollte, ging bis vor Kurzem nach Berlin, heute aber nach Leipzig. Nun beginnt Leipzig teurer zu werden, jetzt sehen wir, Erfurt, Halle, Magdeburg kommen hoch. Deutlich breiter gestreut als vorher.
Dann werden also alle Städte so teuer, dass man es nicht mehr zahlen kann.
So viele Leute sind wir in Deutschland doch nicht, dass das überall passieren wird. Aber es ist eine deutliche Besserung gegenüber „Alle in den sieben Top-Städten". Gleichmäßiger. Bei der Binnenmigration, also innerhalb Deutschlands, sind die großen Städte ohnehin nicht mehr mit dabei. Die sind inzwischen Verlierer, haben einen negativen Binnenwanderungssaldo – finde ich super!
Dennoch fürchten viele, dass die Entwicklung in Berlin in Sachen Mieten immer so weitergehen wird wie jetzt.
Berlin wird nicht zu einem zweiten Paris oder London werden, das ist Quatsch. Wir haben in Deutschland einen Riesenvorteil: Wir sind polyzentral. Es gibt keine konkurrenzlos hervorstechende Stadt. Anders in England: Alles außer London ist für Looser. Mit Paris ist es ähnlich. Hier bricht mir kein Zacken aus der Krone, wenn ich von Berlin nach Hamburg ziehe oder nach Leipzig. Auch die zweite oder dritte Reihe der Städte ist absolut akzeptabel.
Also – wenn auch auf hohem Niveau – keine Panik?
Das Problem ist: Es gibt Leute, die sich hohe Mieten leisten können. Es gibt keine nicht bezahlbare Wohnung. Irgendjemand bezahlt’s. Das ist ein Problem für die, die nicht mitspielen können.
Die armen Berliner, die mit der Entwicklung nicht mehr mithalten können.
Ja, sicher. Vor 20 Jahren konnte ich mir meine Wohnung in Berlin aussuchen, für fünf Euro mitten in Mitte. Daran haben sich aber auch die Lebensumstände angepasst: Der Durchschnitts-Berliner hat ein Zimmer mehr als der Durchschnitts-Münchner. Jetzt sitze ich in einer zu großen Wohnung, gemessen an meiner Zahlungsfähigkeit. Und Umziehen bringt auch nichts, die kleinere Wohnung ist inzwischen genauso teuer. Das ist ein dickes Problem, der Anstieg der Mieten führt dazu, dass ich mich überall einschränken muss. Das greift tief in mein Leben ein, wenn ich das Geld für den Urlaub in die Miete stecken muss, knallhart.
Aber es ist doch klar, dass man sich dagegen wehren möchte!
Ja. Aber es gibt eine ganz aktuelle Studie aus der HU Berlin, sehr solide gemacht, über Verdrängung. Beeindruckendes Ergebnis: 90 Prozent der Verdrängten fühlen sich an ihrem neuen Wohnort wohl, viele wohler als am alten.
Das heißt, alles wird schön, Verdrängung ist gut?
Viele haben nach dem Umzug eine Wohnung in höherer Qualität, die Lage ist oft ruhiger, so geht das dann weiter – beeindruckend. Die Autoren, das merkt man, sind von einer völlig anderen Hypothese gestartet. Ich war auch überrascht über das Ergebnis.
Schrauben die Leute ihre Erwartungen zurück und sind dann mit weniger zufrieden?
Viele behelfen sich, passen sich an. Und viele sind dann auch ganz zufrieden. So interpretiere ich das.
Aber es ist ja auch so, dass in Berlin immer mehr Leute die postulierte Grenze von maximal 30 Prozent des verfügbaren Einkommens für die Miete überschreiten.
Natürlich will ein Vermieter auch zuverlässig die Miete bekommen, daher kommt wohl diese seltsame Zahl, die überall herumwabert. Für Menschen mit alten Bestandsverträgen – noch 95 Prozent der Berliner – gilt das bestimmt nicht. Bei den Neuverträgen trifft die höchste Mietbelastung immer die Studenten – die wollen mittendrin sein, das kostet, dafür verzichten sie auf anderes, auf Urlaub, auf Fläche. Dazu sind sie bereit, Stadtrand ist indiskutabel. Aber das sind die Präferenzen.
Steigende Mieten bedeuten Einschränkungen in anderen Bereichen. Viele sagen auch, es macht ihnen ihr Heimatgefühl, ihre Möglichkeit ihr Leben zu führen, kaputt.
Ja, auch in der Studie gibt es die kulturell Verdrängten – wenn sich das Milieu rundum so ändert, dass man da nicht mehr sein möchte. Ja, das passiert! Wenn ich an einen Ort gebunden bin, bin ich da auch gefährdet. Ich kann nicht einfach weg, bin kein Anywhere, der irgendwo leben kann.
Aber kann man das nicht durch Regulierung etwas ausgleichen?
Na, wer profitiert denn von harter Regulierung oder einem Mietendeckel? Da wäre doch auch der verbeamtete Professor der Profiteur, der kriegt halt dann doch eher den Mietvertrag.
Was also könnte man machen?
Ganz ehrlich: Auf keinem Wohnungsmarkt der Welt ist es je gelungen, dass sich in den guten zentralen Lagen die Einkommensschwächeren halten. Das würde lediglich mit staatlicher Verwaltung gehen. Aber die Gleicheren saßen schon immer in den besseren Wohnlagen. Gegen Verdrängung hilft am Ende nur Eigentum. Wenn Sie sich England angucken oder auch das Saarland: Entweder ist man Eigentümer oder demnächst Eigentümer, nur ganz wenige schaffen das nicht.
Also Kredit statt Miete?
Ja, nach dem uralten Satz: Einmal im Leben zahlt jeder eine Wohnung, die Frage ist bloß, wem sie gehört – das ist einfach richtig. Eigentlich würde ich mir also viel mehr Selbstnutzer wünschen.
Das bedeutet dann, die Stadt ist in der Mitte für die Professoren.
Im Prinzip ja. Gott sei dank sind Städte nicht ganz so glatt. Was wir natürlich haben, sind immer die Ungunstlagen in der Stadt …
Ungunstlagen?
Das muss nichts Schlimmes sein, dazu zählt beispielsweise auch ein Gebiet, dass nur über ein, zwei Straßen erreichbar ist, zum Beispiel die Rote Insel in Schöneberg, umgeben von Bahnlinien und Straßen. Irgendwo gibt es also immer diese Ecken. Ebenso wird es ja nach außen nicht konzentrisch billiger, siehe Grunewald. Aber an der Grundaussage ändert das natürlich nichts: Als Einkommensärmerer wird man in schlechtere Lagen gehen müssen. Chamissoplatz mit Balkon nach Süden – eher nicht.
Die Welt ist gemein und so ist es?
Ganz ehrlich: Ja. Vielleicht kann der eine oder andere bleiben, vielleicht kauft mir Kreuzberg dann mein Haus und dann darf ich da drin weiter wohnen, schön. Welcher Verrückte kauft in Berlin noch Wohnungen – einer der Käufer ist die Stadt, das treibt die Preise mit, das kann nicht sinnvoll sein. Das ist doch keine vernünftige Sozialpolitik.
Was wäre denn dann vernünftig? Im Moment läuft es jedenfalls darauf hinaus, dass die Leute ihren Heimatkiez, in dem sie jeden kennen, verlieren …
Ich glaube nicht, dass es irgendetwas Richtiges gibt. Hier in Berlin sehen wir aktuell eine Neuordnung der Stadt: Was früher am Ende der Welt an der Mauer lag, ist jetzt zentralste Lage. Woanders war das immer schon so, Schwabing war schon immer Schwabing und teuer. Hier ist der Umbruch so hart, weil die Einkommensarmen in guten Lagen sitzen. Am Ende löst das die Anpassungsfähigkeit der Menschen. Sehen Sie sich Leipzig an, das ist hip und cool. Aber da gilt genau dasselbe: In paar Jahren wird es da zu teuer, dann gehen die Hippen und Coolen woanders hin.