Das Grundgesetz und – trotz aller Kritik – Europa geben den Deutschen Halt
Wir leben in düsteren weltpolitischen Zeiten. Infolge der jüngsten Eskalation zwischen den USA und dem Iran herrscht Kriegsgefahr in Nahost. Der Atom-Streit mit Nordkorea schwelt trotz aller zirkusartigen Gipfel-Shows weiter. In Venezuela, dem Land mit den weltweit größten Ölreserven, droht ein Bürgerkrieg. Hinzu kommt, dass internationale Verträge und Abkommen zunehmend ausgehöhlt werden. Autokraten wie US-Präsident Donald Trump, Kremlchef Wladimir Putin oder der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan biegen Recht und Gesetz nach ihrem Gusto um.
Auch Europa ist keine Insel der Seligen. Sorgen bereiten der Klimawandel, die hohe Arbeitslosigkeit – vor allem im Süden – sowie die Zunahme rechtspopulistischer Parteien. In Deutschland macht sich das Gefühl breit, dass die fetten Jahre vorbei sind. Dennoch gibt es hierzulande (noch) zwei wichtige Anker.
Die Bundesrepublik blickt in diesem Monat auf 70 Jahre Grundgesetz zurück. In einer Welt, in der Menschenrechte und Pressefreiheit vielerorts mit Füßen getreten werden, ist die deutsche Verfassung ein Schatz. Sie zieht mit Blick auf Humanität, Demokratie und Rechtsstaat die Lehren aus der Nazi-Tyrannei. Die soziale Marktwirtschaft ist ein Modell, um das Deutschland oft beneidet wird. Gesetzliche Krankenversicherung und kostenlose Bildung sind hohe Güter. Selbstverständlich ist dies nicht, wenn man über den Tellerrand hinausschaut.
Das Gleiche gilt für Europa. Die Europäische Union, deren erste Stufe Anfang der 50er-Jahre gegründet wurde, ist eine Erfolgsgeschichte. Der Kontinent, der in zwei verheerende Weltkriege mit insgesamt mehr als 70 Millionen Toten verstrickt war, hat sich für Frieden und Zusammenarbeit entschieden. Immerhin 62 Prozent der EU-Bürger – der höchste Wert seit 25 Jahren – halten die Mitgliedschaft ihres Landes in dem Staatenverbund für eine gute Sache. In Deutschland sind es sogar 81 Prozent.
Zahlen, die sich vor allem aus dem Blick auf die Vergangenheit speisen. Das vorherrschende Grundgefühl lautet: Nie wieder Krieg zwischen den Ländern, Kooperation statt Feindschaft und Nationalismus. Doch wird die Gegenwart beurteilt, ist die Situation in der EU komplex und widersprüchlich. Es gibt viele Selbstzweifel. Unterschiedliche Sichtweisen über die Kompetenzen von Brüssel, Wirtschafts-, Sozial- und Flüchtlingspolitik spalten die Union. Die Linien verlaufen zwischen Nord und Süd, Ost und West.
Ein Großteil der Europäer wünscht sich einen Wandel. Doch in welche Richtung – daran scheiden sich die Geister. So gewann bei den niederländischen Provinzwahlen im März die immigrationsfeindliche Partei „Forum für Demokratie". Bei den Präsidentschaftswahlen in der Slowakei siegte im gleichen Monat die sozialliberale Politikerin Zuzana Čaputová. Zwei völlig unterschiedliche politische Formationen landeten also jeweils auf Platz eins. Beide Urnengänge waren ein Denkzettel gegen den Status quo: In den Niederlanden gegen die lange dominierenden Mainstream-Parteien, in der Slowakei gegen die in den letzten Jahren tonangebenden Rechtspopulisten.
Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts „YouGov" sind rund eine Woche vor den Wahlen zum Europaparlament mindestens 15 Prozent der Bürger noch unentschlossen. Doch unter denjenigen, die wählen wollen, bezeichnen sich 70 Prozent als Wechselwähler. Viele von ihnen entscheiden erst im letzten Moment, wo sie ihr Kreuz machen. Die Parteien und Kandidaten können sie noch überzeugen, wenn sie über gute Konzepte verfügen.
Europa ist dann in der Lage, die Gegenwart und die Zukunft zu gewinnen, wenn es sich als ein Kontinent der Chancen definiert. Es geht dabei in erster Linie um die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Andernfalls lachen sich die Chinesen und Amerikaner ins Fäustchen. Umverteilung und pure Alimentation sind der falsche Weg. Staatliche Gelder müssen noch viel mehr in Bildung und Weiterbildung fließen. Die Stärkung der beruflichen Qualifikation ist die beste Sozialpolitik – hier gibt es gewaltigen Nachholbedarf. Der zweite EU-Pfeiler ist Sicherheit. Dies bedeutet eine noch engere Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terror und eine europäische Verteidigung. Wachstum, Beschäftigung, Sicherheit: Das ist der Kern eines erfolgreichen Europas.