Jedes Land in Europa verfolgt eigene Interessen – da geht das gemeinsame Ziel verloren. Davon ist Richard Stock, Leiter des Europazentrums CERS nahe Metz, einem pro-europäischen Bildungsverein, überzeugt. Im Licht der Europawahl fordert er weniger nationale Alleingänge und kritisiert, dass sich die Staaten derzeit immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen können.
Die sozialen Unterschiede in Europa könnten nicht größer sein. Die weiterhin extrem hohe Arbeitslosigkeit vor allem bei jüngeren Menschen in den Mittelmeeranrainerstaaten, die teilweise extrem hohe Staatsverschuldung in den Mitgliedstaaten, das Steuerdumping bei der Unternehmensbesteuerung oder die nationalen Eigeninteressen gelten unter Fachleuten als die Wurzel allen sozialen Übels in Europa. Sie gefährden maßgeblich den Zusammenhalt und den sozialen Frieden in der EU. All diese Ursachen sind Wasser auf die Mühlen der Populisten und Nationalisten und könnten bei den Europawahlen am 26. Mai für einen Rechtsrutsch im Europaparlament sorgen. FORUM hat bei Richard Stock nachgefragt, wie es um das soziale Europa bestellt ist. Stock ist Generaldirektor des Europazentrums Robert Schuman in Scy-Chazelles bei Metz.
Herr Stock, die Fliehkräfte in Europa sind groß. Der Zusammenhalt der Mitgliedstaaten in der EU scheint gefährdeter denn je. Wie kann man gegensteuern?
Die Ursachen sind vielfältig. Wir müssen leider feststellen, dass bei den Trendthemen wie Digitalisierung, demografischer Wandel, Altersarmut, Energiewende, Klimawandel oder Sicherheit die nationalen Interessen überwiegen. Jedes Mitgliedsland verfolgt seine eigenen Ideen, die Solidarität bleibt auf der Strecke mit gravierenden Folgen für Europa.
Nehmen wir den globalen Steuerwettbewerb: Laut Gesetz zahlen Unternehmen in Frankreich 33 Prozent Steuern, effektiv sind es 17 Prozent; in Deutschland liegt die Besteuerung bei 30 Prozent, effektiv sind es 20 Prozent; in Luxemburg sind es 29 Prozent, aber gezahlt werden nur zwei Prozent. Die Liste lässt sich fortsetzen. Die EU hat keine Harmonisierung bei der Unternehmensbesteuerung hinbekommen. Dieses Steuerdumping, das im Übrigen die Europäer begonnen haben und nicht die USA, führt zu extremen Gewinnverlagerungen der Unternehmen und ist Hauptübel für den sich anbahnenden Sozialkrieg in Europa. Beispiel Digitalsteuer: Frankreich will sie einführen, die anderen Länder wie Deutschland nicht. Was soll dieser Alleingang? Hat Deutschland vor Trump die Hosen voll wegen der Autoindustrie? Beispiel Energiepolitik: Deutschland setzt bei der Gasversorgung mit Nord Stream 2 ohne Rücksicht auf Verluste immer mehr auf Russland. Jedes Land betreibt seine eigene Energiepolitik, von der Atomenergie ganz zu schweigen.
Eine der Hauptursachen für diesen Missstand liegt im System begründet. Das Prinzip der Einstimmigkeit in der EU und die daraus resultierende Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner lassen in Europa leider keine großen Vorhaben mehr zu.
Das deutsch-französische Tandem scheint aus dem Tritt geraten zu sein. Wie bekommt man das wieder flott?
Macron packt es an, Merkel bremst – so lässt sich der Zustand der beiden Partnerländer derzeit zusammenfassen. Sie ziehen zwar bei Europa an einem Strang, aber nicht in die gleiche Richtung. Es gibt keine gemeinsamen großen Projekte. Die Rede Macrons vor eineinhalb Jahren in der Pariser Sorbonne ist von Merkel mehr oder weniger unkommentiert geblieben. Die neuen Vorschläge Macrons zur Renaissance Europas sind nunmehr sehr oberflächlich geblieben, so dass niemand widersprechen würde, wie bei einer Agentur für den Schutz der Demokratien, einer Klimabank oder einer europäischen Verteidigung. Aber Deutschland und Frankreich sind nicht Europa allein. Das haben wir bei der Ablehnung der Fusion von Alstom und Siemens gesehen. Die anderen Länder wollten nicht, dass hier ein mächtiger Champion entsteht, der den europäischen Markt beherrscht unbenommen der Entwicklung in China.
In Frankreich hat die Gelbwesten-Bewegung Macrons Politik gehörig durcheinandergewirbelt. Grund sind die sozialen Unterschiede. Wäre das auch in Deutschland denkbar?
Das glaube ich nicht. Im Gegensatz zu den Deutschen steckt uns Franzosen das Revolutionäre in den Genen. Nüchtern betrachtet ist die Gilets-Jaunes-Bewegung durchaus erfolgreich. Elf Milliarden Euro hat sie binnen kurzer Zeit bei Macron „locker" gemacht. Das ist beachtenswert, denn die Löhne sind in Frankreich in den letzten Jahren schneller gestiegen als die Produktivität. Leider hat die Bewegung auch viele fanatische Chaoten auf den Plan gerufen und droht deshalb, an Akzeptanz in der Bevölkerung zu verlieren. Aber mal Hand aufs Herz: Eigentlich müsste die Bewegung doch in Deutschland stattfinden. Deutschland ist schon aufgrund des demografischen Wandels nach Statistiken von Eurostat viel stärker von der Altersarmut betroffen. Das Renteneintrittsalter liegt höher, und die Renten fallen in Deutschland zehn Prozent niedriger aus als in Frankreich. Französische Arbeitnehmer profitieren von einer längeren sozialen Absicherung bei Arbeitslosigkeit. Die Wahrnehmung scheint in Deutschland aber wohl eine andere zu sein.
Der SPD dämmert es anscheinend, sie setzt verstärkt auf eine neue soziale Programmatik. Kommt das nicht zu spät, um Schlimmeres bei den Europawahlen zu verhindern?
Man muss nicht nur reden, man muss auch tun. Parteien werden organisiert wie Rennställe. Ein Champion wird geformt, und der muss die Wahlen gewinnen. Vor 30 Jahren war das noch anders. Da gab es Parteiprogramme, auf die man sich berufen konnte. Heute interessiert das niemanden mehr, oder zeigen Sie mir Wähler, die Parteiprogramme lesen.
Was müssten wir tun, um den europäischen Zusammenhalt zu verbessern?
Wir brauchen mehr Geld für Bildung und Qualifikation der Arbeitnehmer, insbesondere in Anbetracht der anstehenden digitalen Herausforderungen, die wir als Chance betrachten sollten, eine europäische Industriepolitik, ein Ende des ruinösen Steuerdumpings, mehr Ehrlichkeit bei der Debatte um Defizit, Euro und Migration, mehr gemeinsame Projekte in Europa und daraus resultierend einen besseren Zusammenhalt unter den Mitgliedstaaten. Das alles wäre machbar. Die europäische Solidarität gibt es nicht zum Nulltarif, aber wir alle können am 26. Mai zur Wahl gehen. Das sollten wir auch unbedingt tun, um den Populisten nicht allein das Feld zu überlassen. Dafür ist Europa zu wichtig.