Neue Talente entdecken, die auch im Leben jenseits der Knast-Mauern weiter tragen: Das erleben Gadzhimurad, Philipp und ihre Schauspielerkollegen im Gefangenentheater „aufBruch". Aktuell auf dem Spielplan der Berliner JVA Plötzensee: „Die Festung" nach dem Roman „Die Tatarenwüste" von Dino Buzzati.
Eine Festung am Rand der Welt. Grenzgebiet, dahinter eine Wüste, aus der – so das Gerücht – die feindlichen Tataren einfallen könnten. Der junge Offizier Giovanni Drogo lässt sich dorthin versetzen. Er träumt davon, ein Held zu werden – in der alles entscheidenden Schlacht, wenn die Tataren endlich kommen. Doch die bleiben unsichtbar, obwohl jede Wache stundenlang durch die Feldstecher blickt. Das militärische Reglement ist gnadenlos, es bestimmt das tägliche Leben auf der Festung. Schon bald merkt Drogo, dass es hier nicht auf Heldenmut und Tapferkeit ankommt. Das Warten, die Pflichterfüllung werden zum Selbstzweck, nur die Besten halten das aus, nur eine verschworene Gemeinschaft von Auserwählten kann hier überleben. Drogo, der eigentlich nur vier Monate bleiben wollte, bekennt schon bald, dass er die anderen nicht im Stich lassen kann. Sein Kamerad Angustina sagt zu ihm „Jeder hat einen Grund, auf der Festung zu bleiben, auch du wirst einen finden."
Das Stück nach dem 1940 erschienenen Roman „Die Tatarenwüste" von Dino Buzzati wirkt wie von Kafka erdacht: Eine ausweglose Situation, Menschen, die sich irgendwie darin einrichten, auf etwas warten, das nie kommt, eine unsichtbare Bedrohung – was hat das mit dem Alltag in einem Gefängnis zu tun? Denn „Die Festung" ist das neue Stück des Gefangenentheaters „aufBruch", aufgeführt in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Plötzensee, von neun Schauspielern, die allesamt hier einsitzen. Gadzhimurad, der den Stabsarzt spielt, sagt es ganz einfach: „Wir Gefangenen hoffen alle, wir kommen früher raus, wegen guter Führung, als Freigänger, alle denken, das klappt – aber am Ende müssen wir doch die ganze Zeit absitzen."
Alle im Stück sind Soldaten – gleichgemacht durch die Uniform, die gemeinsame Situation, die Mauern, die sie umgeben. Peter Atanassow, der Regisseur, sagt zu den Absichten des Autors: „Das Militär wird zum Sammelbecken für diejenigen, die entweder zu spät geboren oder früh schon überall rausgeflogen sind, die früh gealtert sind, die keine Abschlüsse geschafft haben und immer allen ein bisschen Angst machen." Die Männer, die hier spielen, können so etwas nachfühlen, sie haben in der Welt keinen Platz gefunden. Atanassow sieht auch Parallelen zu Strukturen, die man aus der DDR-Zeit, aus diktatorischen Regimes, kennt. „Du brauchst einen Feind, um die Menschen drinzuhalten. Die Menschen bleiben in den gewohnten Strukturen gefangen, man muss ja nichts tun, außer dem, was man sowieso jeden Tag tut. Es gab in der DDR immer eine Ausrede – ja, wenn ich könnte, wenn ich im Westen wäre, dann wäre ich ein gemachter Mann, aber so …"
„Wir hoffen alle, dass wir früher rauskommen"
Das Stück drückt die Gefangenen, die es spielen, nicht herunter, im Gegenteil: Dadurch, dass sie das spielen, was sie bedrückt und immer wieder an sich zweifeln lässt, machen sie eine Wandlung durch, sie verschmelzen zu einer Truppe, in der die alltägliche Konkurrenz zurücktritt und das Gemeinsame überwiegt. Philipp K., der den Morel spielt, meint: „Am wichtigsten war die Erfahrung, dass wir hier ein gemeinsames Ziel haben. Wir kommen aus allen möglichen Stationen in diesem Riesenknast, aber hier sind wir verbunden zu einem Projekt – und das ist die Festung." Auch Nehad, der Darsteller des Drogo, hat durch das Spiel Mut geschöpft: „Der Regisseur und die Produktionsleiterin Sibylle Arndt haben uns ganz anders behandelt als die Wachen – wir waren hier unter uns, sie gingen mit uns wie normale Menschen um." Er will seine schauspielerischen Fähigkeiten weiter trainieren, auch wenn er aus dem Gefängnis raus ist.
Das ist es, was das Theaterprojekt „aufBruch" antreibt. Seit 20 Jahren arbeitet das Team mit Regie, Bühne, Kostüm, musikalischer Einstudierung, Produktionsleitung und Videoeinspielung kontinuierlich in der JVA Tegel, seit zehn Jahren in der Jugendstrafanstalt Berlin, seit vier Jahren in der JVA Plötzensee und seit einem Jahr in der neu errichteten JVA Heidering. „Wir möchten der Öffentlichkeit ein anderes Bild vom Gefängnis vermitteln", meint Arndt, „weg vom Klischee. Ein Gefängnis ist kein Ort, wo sich ständig irgendwelche Skandale, Gewalttätigkeiten und Konflikte abspielen. Das Theater bietet ein anderes Bild vom Vollzug – sehen Sie, auch das ist möglich."
Nach der Generalprobe klatscht Atanassow seine Truppe per Handschlag ab. Der groß gewachsene Mann, der vom Schauspiel kommt, hat schon einige Stücke mit Gefangenen auf die Beine gestellt: „Der Sturm", Anfang dieses Jahres in der JVA Tegel, „Hamlet", „Underground" von Emir Kusturica. Sein Fazit: Es ist ein Stück kulturelle Bildung, die sich hier im Knast vollzieht, die Gefangenen entdecken neue Möglichkeiten, entwickeln Fähigkeiten, von denen sie nichts gewusst haben, auch wenn sie am Anfang nur mitgemacht haben, um die Zeit totzuschlagen.
Er hat hart gearbeitet mit der Truppe, sieben Wochen lang, jeden Tag von 15 bis 20 Uhr wurde geprobt. Anfangs waren es mehr als 20 Interessierte, die mitspielen wollten. Nach einer Woche sind neun geblieben, die sich das Theaterspielen zutrauten. „Da durfte dann auch keiner mehr abspringen", sagt Imad. Wie haben sie den Text gelernt, wo doch kaum einer als Muttersprache Deutsch spricht? „Anfangs hatten wir bei den Proben immer das Textbuch in der Hand und haben abgelesen. Das wurde nach kurzer Zeit lästig, also haben wir tagsüber beim Spielen und abends in der Zelle auswendig gelernt." Er bekennt, dass ihm, dem nach außen hin hart wirkenden Mann, beim ersten Auftritt vor Publikum die Beine gezittert haben. „Aber dann merkst du auf einmal das Adrenalin, die Energie, die dich pusht – das ist ein gutes Gefühl."
Proben täglich nach der Arbeit
Für jedes Stück, das Atanassow inszeniert, stellt er eine neue Truppe zusammen. Die Häftlinge bekommen Sprachtraining, lernen Bewegung und Tanz, auch Gesang. Die Proben laufen nach der regulären Arbeit, die jeder in der Haftanstalt verrichten muss. „Jeder darf mitspielen, wir haben keine Straftatbeschränkung", sagt Arndt. „Natürlich achten wir darauf, ob einer trinkt, Drogen nimmt, gewalttätig ist – das geht nicht." Atanassow: „Da sind manchmal schon wirkliche Talente darunter, und andere, die so unscheinbar daherkommen, aber beim Spiel eine ungeheure Strahlkraft entfalten."
Ein einziger schafft es, einmal die Festung zu verlassen. Angustina hält es eines Tages nicht mehr aus – er ist davon überzeugt, dass gegenüber eine zweite, eine feindliche Festung liegt, in der sich alles genauso abspielt wie in der eigenen. Als er wieder zurückwill, kennt er das neue Losungswort nicht, es wurde am Morgen geändert. Drogo steht Wache – und er handelt so, wie das Reglement es verlangt: Er erschießt seinen Kameraden.