„Zwischen den Zeilen" ist eine Dramedy über die digitalisierten Unwägbarkeiten des World Wide Webs von Autoren-Filmrebell Olivier Assayas. Frankreichs
Vorzeige-Ikone Juliette Binoche und Guillaume Canet durchleuchten den Irrgarten des Pariser Verlagsuniversums.
Der gute alte, gedruckte Buchstabe wird bald beerdigt werden, gnadenlos gemeuchelt von den tödlichen Dolchstößen der Digitalisierung im Internet. Bytes und Bits statt bleibedruckter Bücher. So sieht es jedenfalls Alain Danielson (Guillaume Canet), Chef eines renommierten und altehrwürdigen Pariser Verlags. Er ist sich sicher, dass spätestens im 21. Jahrhundert die gebundenen Kulturgüter Geschichte sein werden. Deshalb hat er die jungdynamische und hübsche PR-Assistentin Laure d’Angerville (Christa Théret) rekrutiert, die als internetkundiger Youngster den schwächelnden Literatur-Tempel mit SMS, Blog-Beiträgen und einer peppigen Webseite wieder aus dem Dornröschenschlaf erwecken soll. Nebenbei aber auch in der Horizontalen Alains eheschlaffes bestes Stück.
Letzteres jedoch sollte seine langjährige Ehefrau, die Seriendarstellerin Selena (Juliette Binoche) selbstverständlich nicht erfahren. Gegen derartiges Intellekt-Viagra ist Alains Intimus, der Schriftsteller Léonard (Vincent Macaigne) absolut machtlos, verteidigt er doch bissig wie ein knochenberaubter Terrier die leinengebundenen Klassiker in den Regalen. Vollgetipptes Papier auf dem Tisch statt Kindle und Smartphone in linkischen Händen lautet seine Maxime. Daher scheitert sein neues Manuskript kläglich bei Alain. Sein aktuelles Thema, sagt der Herausgeber, interessiere heutzutage keinen Menschen mehr, weil es, wie all seine letzten Ladenhüter, zu sehr autobiografisch durchtränkt sei und obendrein die Affäre eines respektablen Romanciers mit einer angejahrten Schauspielerin thematisiere. Überhaupt, grundsätzlich sei Léonards kulturpessimistische Opposition gegenüber den modernen Medien ewiggestrig und nicht mehr akzeptabel. Seine Art von auktorialen Fiktionen und Visionen könne frau/man mit wenigen fixen Klicks in den Suchmaschinen allzu schnell entlarven. Léonard, schwer gedemütigt und gekränkt, muss also sein gesamtes Oeuvre neu überarbeiten. Das macht diese konfliktgeladene Gemengelage zwischen den beiden Midlife-Crisis-Machos nicht gerade einfacher.
Eigene Klischees werden karikiert
Hintergrund: Von seiner besseren Hälfte, Valérie (Nora Hamzawi), die als PR-Ass für einen aufstrebenden Pariser Politiker 24 Stunden täglich im Einsatz ist, darf Léonard keinen Trost erwarten. Lediglich Selena, die Alains Fehltritte mit der Literatur-Lolita Laure zwar billigend ahnt, findet genüsslichen Gefallen an Léonards fantasievollen Ergüssen. Völlig verständlich, zumal sie in Wahrheit nicht die blütenreine Unschuld in der Viererbande mimt, sondern selbst als amouröse Muse Léonards testosterongesteuerte Begierden begleicht. Ob ihr Göttergatte sie vielleicht doch in Léonards Beschreibungen identifiziert hat und deshalb so unbarmherzig mit seinem besten Freund umgeht, und ihn deshalb immer wieder harsch abweist?
Abermals unbarmherzig unkonventionell fokussiert der mit Filmpreisen überhäufte Autorenfilmer Olivier Assayas („Die Wolken von Sils Maria") das existenzielle Thema von intellektuellen Werten im wuchtigen Wandel der Wahrheit und Wirklichkeit. Dabei kritisiert er kulturpessimistisch, dass die ethische und artifizielle Sozialisation des Einzelnen unproportional zur unbedachten und unethischen Technisierung im entmenschlichten Digitalisierungszeitalter verläuft. Assayas vergrault den Zuschauer nicht mit dem didaktischen, schwermütigen Zeigefinger nach teutonischer Arthaus-Film-Manier, sondern karikiert eigene Klischees, kurzweilig und konzentriert. Mit amüsanter Verve, wollüstigem Witz und herzlicher Hingabe. Intelligent montiert er dabei bewusst auf antiquiertem, grobkörnigen 16 Millimeter-Filmmaterial die Lese-, Liebes- und Lebenswelten seiner formidablen Protagonisten und lässt sie geistvoll über Generationenkonflikte, Politik, Wirtschaft, Theater, Film und Literatur debattieren. Gewürzt mit den unehrlichen Fehltritten und Heimlichkeiten seiner authentisch agierenden Hauptfiguren. Nichts Genaues sagt frau/man nicht, die Krise der Kunst schwebt irgendwo stumm, aber spürbar zwischen den Zeilen. Schon mit seinen Independent-Perlen „Die Wolken von Sils Maria" (2014) und „Personal Shopper" (2016) hat sich Assayas als außenseiterische Geheimwaffe für philosophische Sujets empfohlen und dabei in symbolträchtigen Sequenzen die monetären Mechanismen der Filmindustrie persifliert. Hier adelt er gleichsam den Altmeister der Nouvelle Vague, Eric Rohmer und dessen Komödie „Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek" von 1993, die seinerzeit den Lifestyle der französischen Bonvivants augenzwinkernd ins Visier nahm. „Die gesamte Welt verändert sich schnell, und wir müssen den Wandel mit seinen Begleiterscheinungen beobachten, um zu begreifen, was wirklich für die Menschheit auf dem Spiel steht", betont der 1955 in Paris geborene Ex-Redakteur der hehren „Cahiers Du Cinéma" und Drehbuchspezialist Assayas. Wie sagte schon der Schweizer Philosoph Henri Frédéric Amiel Mitte des 19. Jahrhunderts? „1.000 Dinge bewegen sich vorwärts, 999 zurück. Das nennt man Fortschritt."