Auf dem Plattbodenschiff können Groß und Klein selbst Hand anlegen und kommen in den Genuss spannender Watt-Erlebnisse.
Vor dem Ablegen alle Luken schließen, nach dem Anlegen ein Schnäpschen kippen, täglich die Kompassrose gießen: Auf einem Segelschiff haben Rituale einen hohen Stellenwert. So auch der regelmäßig nach dem Abendessen von Skipper und Eigner Len Pool vorgetragene Wetterausblick für den kommenden Tag. Bislang hatte die überwiegend aus Segel-Novizen bestehende Crew schon einiges erlebt: von bis sechs Beaufort reichenden Winden über Regenschauer, die das komplette Gummizeug zum Einsatz brachten, bis hin zu für den Spätsommer ungewöhnlich warmen Temperaturen inklusive Sonnenbrand. Jetzt aber sagt Len mit Grabesstimme: „Ein heftiges Tief über Norwegen …" Die 16 Mitsegler, die um die beiden Holztische im Salon des Zweimastklippers Nooit Volmaeckt sitzen, ahnen nichts Gutes. Doch Len, dessen holländischer Akzent und schelmische Art unweigerlich an Rudi Carrell denken lassen, löst mit einem Grinsen auf: „ … tangiert uns nicht im Geringsten. Wir haben Sonne pur und dennoch genug Wind, um immer wieder die Segel zu setzen."
Wer will, darf auch mal ans grosse Steuerrad
Und darum geht es schließlich: Segeln. Mit der Familie. Mit Kindern. Und da das klassische Yachtensegeln für viele Neulinge zu heftig erscheint, bietet sich die Fahrt mit dem Plattbodenschiff als sanfterer Einstieg an. Gut, die Kajüten sind nicht viel geräumiger als auf anderen Yachten, aber die lange, bauchige Form der ehemaligen Transport- und vielfach zu Passagierschiffen umgerüsteten Boote sorgt für Stabilität und ruhige Lagen. Seekrankheit kommt da deutlich seltener vor. Außerdem kann man sich während der Fahrt – und pro Tag kommen auf See durchaus fünf bis sechs Stunden zusammen – unter Deck aufhalten. Wo die 23-jährige Pia, die als maximal entspannte Reiseleiterin fungiert, für unaufdringliche Beschäftigung für die neun Kinder zwischen sechs und 17 Jahren sorgt. Und zwar bevor aus Langeweile der Bauch grummelt. Da werden dann stundenlang Armbänder geflochten, knifflige Denkrätsel in der Gruppe gespielt und Piratentücher gebastelt. Und an Deck können die Youngster ebenfalls Hand anlegen, wenn die großen Segel gehisst oder alles klar zur Wende gemacht werden muss. Elke Kühnemann, Lens Lebens- und Schiffspartnerin seit rund 25 Jahren, zeigt, wie die ehrwürdige, 1893 gebaute und 2007 mit superleisem und energieeffizientem Motor upgegradete Nooit Volmaeckt bedient wird. Wie Klüverbaum samt Netz hochgeholt, das große Rad zum Großsegelsetzen betätigt, die Fender an der Seite befestigt, Karten gelesen werden, Knoten funktionieren. Lens Platz befindet sich achtern am großen Steuerrad, das er Freiwillige gern übernehmen lässt. Wow: So ein 25,40 Meter langes und 5,20 Meter breites Schiff zu manövrieren, ist schwerer als gedacht. Da heißt es, immer den großen Standkompass, die Segelfähnchen im Wind sowie parallel kreuzende Schiffe im Auge zu behalten. Doch so recht gelingt es mir nicht, den vorgegebenen „Hart am Wind"-Kurs zu halten. „Schlingerkurs ist da ein echtes Understatement", grinst Len und übernimmt. Doch das Selbst-mit-Anpacken macht Spaß und schweißt außerdem in kürzester Zeit zusammen. Außerdem gilt das Motto „Man kann mitmachen, muss aber nicht". Für Entspannung bleibt also mehr als genug Zeit. Und für Entdeckungen.
Beim Landurlaub in die Strandbar
„Da vorne, ein Schweinswal!" Len reicht das Fernglas weiter. Und löst vor allem bei den Kindern verzückte Rufe aus. Für eine andere Attraktion braucht es keine Sehhilfe. Auf einer Sandbank tummeln sich jede Menge Seehunde, der knuffige Bordhund namens Kumpel lässt sich sogar streicheln. Die Teenager gehen währenddessen am liebsten ins Netz, aber in diesem Fall nicht ins virtuelle, sondern ins Klüvernetz am Bug. Herrlich, in rund zwei Metern Höhe über den tanzenden Wellen zu baumeln, Gitarre zu spielen, zu chillen. Bei der Einfahrt in den Hafen der Nordseeinsel Terschelling muss das Klüvernetz jedoch eingeholt werden. Wir sind recht früh am Nachmittag dran, deshalb ergattern wir, im Gegensatz zu vielen anderen Tagen, wo wir uns „im Päckchen" an andere Schiffe anschmiegen, einen Liegeplatz direkt am Steg. Nachdem alles vertäut ist, schwärmen wir aus. Zum Eis essen. Zum Schiffe gucken. Zum Läden inspizieren. Und zum Muscheln sammeln. Elke zeigt uns, wie das geht. „Einfach mit beiden Händen im Schlick buddeln und nach harten Muscheln fühlen. Aber nur die geschlossenen kommen in den Eimer." In Gemüsebrühe gekocht und mit zwei Soßen serviert, schmecken sie köstlich. Selbst die Kinder können gar nicht genug davon bekommen. Ruckzuck ist die riesige Schüssel leer. Gut, dass es noch Spaghetti mit Tomatensoße und Pudding gibt. Schließlich macht ein Tag auf See und im Wind ordentlich hungrig. Gekocht wird in der Kombüse und ausschließlich von den Teilnehmern. Es gilt: Für alles rund ums Boot sind Len und Elke verantwortlich, für die Organisation und die Kinderbetreuung ist es Pia, aber für das Essen und das Abspülen alle anderen.
Am nächsten Tag gehen wir es gemütlich an, leihen Tandems aus und cruisen durch Kiefernwälder zu kilometerlangen Sandstränden. Die Mutigen wagen sich sogar in die beachtlichen Wellen. Doch allzu lang dürfen wir uns in der lässigen Strandbar „Zandzeebar" rund zehn Kilometer von unserem Hafen in West-Terschelling nicht aufhalten – um 15 Uhr wollen wir ablegen. Zwar liegt die nächste Insel Vlieland nicht weit, aber rund zweieinhalb Stunden Fahrt sollten wir dennoch einplanen. Was auch hinkommt. Dort erwartet uns eine herrliche Hafendusche und ein noch herrlicherer Sonnenuntergang. Doch das Beste kommt am nächsten Tag: das Trockenfallen. Für die meisten der absolute Höhepunkt des an Höhepunkten reichen sechstägigen Törns.
Das Schiff steht auf der Sandbank
Das geht nur im Wattenmeer und nur mit Schiffen, die keinen Kiel haben. Wie eben die hier zu Hunderten herumfahrenden Plattbodenschiffe. Und im Gegensatz zu Zeiten, in denen man sich Wind wünscht, ist die Flaute sogar willkommen. Len und Elke suchen sich dazu eine geeignete Stelle mitten im Meer, Vlieland, Texel und der Deich, der Ijssel- und Wattenmeer trennt, sind nur in der Ferne auszumachen. Elke schmeißt den Anker und misst mit dem Enterhaken den Wasserstand: 1,80 Meter. Jetzt heißt es warten. „Ach, deshalb heißt es Wartenmeer", scherzt die kleine Lilo. Alles bräunt sich, liest, spielt, knabbert Kekse. Müßiggang in Reinkultur. Dabei kann man dem Wasser förmlich zusehen, wie es durch den Priel wegströmt. Len warnt, nicht hineinzuspringen, man würde abgetrieben werden, so schnell ist die Strömung. Eine Stunde später gibt er aber seinen Segen. Schließlich kann man in dem rund 19 Grad warmen Wasser mittlerweile stehen. Schließlich ist alles Wasser verschwunden. Das Schiff steht komplett auf der Sandbank. Unwirklich! Wir machen einen Spaziergang über den Sand, die Kinder spielen in den Pfützen, die Muschelsammler werden wieder aktiv. Mehr als 500 Meter soll man sich nicht entfernen. Denn das Wasser kommt auch wieder, manchmal an unerwarteter Stelle. Doch längst sind wieder alle an Bord, laben sich an Muscheln und lauschen Lens Wetterbericht, der nicht nur den morgigen Tag umfasst, sondern auch die kommenden Stunden. Denn heute steht eine Nachtfahrt an. Unter Sternen. Am nächsten Tag erwartet uns noch mal ein Schlag quer übers nur wenige Meter tiefe Ijsselmeer. Doch soll keiner sagen, dass hier nicht ordentlich Wind blasen kann. Mit dessen Hilfe und allen zehn Segeln, die inklusive dem „Affen" eine Fläche von rund 310 Quadratmetern ergeben, geht es nach Medemblik schneller als erwartet. So kommen wir auch schneller zu einem Pannekoeken und zur Abschiedspizza, die wir zur Feier des Tages an Land einnehmen. Doch oh Schreck: War am schaukelnden Deck noch alles in Ordnung, befällt uns an Land kollektive Seekrankheit. Alles scheint zu wackeln. So ein Törn stellt eben vieles auf den Kopf.