Die EU-Wahl und die „Fridays" haben eindeutige Signale gesetzt, sagt Renate Künast im FORUM-Redaktionsgespräch. Energie- und Agrarwende müssten „unerschrocken" vorangetrieben werden. Zugleich fordert die Grünen-Politikerin, Demokratie gegen Manipulationen durch Hass und Fake News entschieden zu verteidigen.
Frau Künast, was verändert sich gerade in der Politik?
Es gibt nicht mehr die alten, festgefügten Zugehörigkeiten zu Parteien. Meinungsbildung wird nicht mehr nur durch eine Hand voll größerer Zeitungen initiiert. Und: Meinungsbildung geschieht viel schneller. Das Netz gibt einem Informationen, die man problemlos analysieren kann. Dann kommt eben auch mal so ein Video raus, das für viel Aufmerksamkeit sorgt. Ältere Parteien hatten eine Bindungswirkung, weil sie erkennbar für etwas standen: die Partei, die Katholiken wählen, die Partei, die Arbeiter wählen. Wenn diese Gruppen sich verändern, nicht mehr im traditionellen Sinn existieren, wird auch die Bindungswirkung niedriger. Das Parteienspektrum verändert sich.
Sich besser im Netz informieren zu können ist das eine, das andere sind die Manipulationsmöglichkeiten. Wie kann man damit umgehen?
Das ist ganz schwierig. Brexit oder die Wahl von Trump sind schon anders abgelaufen als frühere Wahlen. Wir sehen auch im Bereich Rechtspopulisten und -extremismus, wie das Netz genutzt werden kann. Früher hat man auf einem Plakat erkannt, dass das Wahlwerbung ist. Im Netz erkennt man das gar nicht mehr. Beim Einsatz von Bots oder Leuten, die gleich zehn, 20 Zugänge haben und dafür bezahlt werden, Meinungen zu manipulieren, erkennt man gar nicht, wer dahinter steht und wo das Geld dafür herkommt. Da müssen wir Transparenz schaffen. Der andere Punkt ist die massive Manipulation durch Hass und Fake News. Hier müssen wir unsere Demokratie entschieden verteidigen. Wir wissen, dass es massive Interessen gibt, uns zu manipulieren. Aus Russland kommen solche Manipulationen, eine Art asymmetrische Kriegsführung, nicht mehr Waffen, sondern aus dem Interesse, Unruhe und grundlegende Zweifel an unserer demokratischen Struktur zu verbreiten. Oder Rechtsextreme mit reichen Leuten im Hintergrund, deren Interesse ihr Geld ist, nicht Demokratie, schon gar nicht Nachhaltigkeit. Denn die beschränkt ihre Chance, mit der alten Rücksichtslosigkeit Geld zu verdienen. Bei den großen Anbietern stellen sich deshalb nicht nur die Fragen: Wo zahlt ihr Steuern und zahlt ihr überhaupt welche. Sondern auch: Tragt ihr inhaltliche Verantwortung? Die sagen, wir sind ja nur eine Kommunikationsplattform. In Wahrheit sind sie Werbeplattformen. Wir müssen die Unternehmen in die Pflicht nehmen. Was im Analogen gilt, muss auch im Digitalen gelten.
Das ist im Prinzip auch weniger strittig als die Frage nach den Methoden der Umsetzung, die Frage also, mit welchem Handwerkszeug man drangehen kann?
Das Grundgesetz garantiert Meinungsfreiheit. Aber was da teilweise gesagt wird, hat nichts mit Meinung zu tun, sondern ist purer Hass, teilweise Straftat. Wenn Ihnen jemand sagt, er würde von Ihnen gerne ein Enthauptungsvideo sehen, ist das keine Meinung. Es gibt zwei Ebenen der Reaktionen. Man kann mit dem Strafrecht drangehen. Die Rechtsextremen sind aber geschult in der trickreichen Umgehung des Strafrechts. Ich persönlich habe angefangen, jetzt auch Zivilrechtsklagen zu machen, weil das viel früher ansetzt. Da geht es nicht um Meinungsfreiheit oder Zensur, sondern um Ehrverletzung. Also Unterlassungsklage, Schmerzensgeld. Die müssen spüren, dass dieses Verhalten nicht folgenlos bleibt.
Was sagt eigentlich ein solches Kommunikationsverhalten über den Zustand unserer Gesellschaft?
Man fragt sich ja wirklich: Wo kommen die alle her, waren die immer schon da? Professor Heitmeyer hat in umfangreichen Studien festgestellt, dass es bei zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung rechtsextreme Einstellungen gibt. Die waren aber bislang nicht organisiert. Es gab zwar die NPD und die DVU, aber da ging man als wohlerzogenes Wesen nicht hin. Dann hat der rechtsextreme Bereich versucht, sich neu zu organisieren, etwa mit der Zeitung „Neue Freiheit", später mit einem neuen Netzwerk mit Götz Kubitschek und der Zeitung „Sezession". Und dann gründete Professor Lucke eine Partei, die die Kritik am Euro und der EU bündelte. Die hat dann auch Leute angezogen, die sehr nationalistisch eingestellt sind, so viele, dass sie den Professor rausgedrängt haben. Also: Die Einstellungen waren vorher da, jetzt haben sie sich als Partei organisiert, und sie haben massiver als andere gelernt, wie man das Netz nutzen kann. Sie haben gelernt aus dem Brexit und aus den USA. Und es gibt offensichtlich Unterstützung von potenten Geldgebern. Von sehr reichen Leuten, die nicht an funktionierenden Demokratien interessiert sind, denen es am liebsten ist, wenn es keine Regeln gibt. Und sie haben gelernt, zu emotionalisieren, immer drauf aufs lymbische System, also die Stelle im Gehirn, wo Angst und Aggression sind. Das bringt mich dazu zu sagen, wir müssen jetzt die Stimme dagegen erheben. Denn: wenn man zu spät dran ist, ist es zu spät.
Die Grünen sind auf einem ungeahnten Höhenflug. Junge Menschen, die freitags auf die Straße gehen, bekommen immer mehr Zuspruch aus allen Bereichen der Gesellschaft. Ist das der endgültige Durchbruch für grüne Ideen?
Es ist fast schon eine göttliche Fügung, dass „Fridays for Future" entstanden ist zu einem Zeitpunkt, wo uns immer mehr Wissenschaftler sagen, dass der Klimawandel noch schneller kommt, dass der massive Verlust von Arten da ist. Aber dazu braucht es nicht nur die Wissenschaft, die Bauern weltweit sehen es jeden Tag. Wir brauchen eine Transformation als Erstes in der Energieerzeugung.
Wir haben es geschafft, dass es eine Kohlekommission gab. Die hat immerhin als Kompromiss den Kohleausstieg im Jahr 2038 hingekriegt. Schon meldet sich der im Alten und Falschen verhaftete Lobbyismus und Egoismus und sagt: Das ist viel zu früh. Ich sage, dass „Fridays for Future" vom Himmel gefallen ist, weil keiner so klar wie die jungen Leute sagen kann: 2038 als Ausstieg ist zu spät. „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsere Zukunft klaut" – präziser kann man es doch gar nicht sagen. Und da diskutieren einige über Schulschwänzen! Die jungen Leute haben doch klar erkannt, dass es um die Existenz geht. Viele Prognosen sagen, wenn wir jetzt nicht massiv arbeiten, ist in 80 Jahren die Hälfte von Niedersachsen unter Wasser. Wo gehen denn dann die Leute hin? Ich finde, diese Jugendlichen sind so wahnsinnig realistisch, während die anderen nur drum herumreden. Kramp-Karrenbauer benutzt das Wort jetzt auch, sagt aber, wir müssen gemeinsam vorangehen. Aber die Zeit haben wir gar nicht mehr, bis alle EU-Mitgliedsstaaten so weit sind.
Es muss einer vorangehen. Das ist unsere Aufgabe. Für uns kann das auch ein wirtschaftlicher Vorteil sein. Wenn das viertgrößte Industrieland vorangeht, gibt das Druck für andere. Die EU-Wahl und jeder Freitag setzen dafür eindeutige Signale.
Was muss sich auf EU-Ebene unter dem Aspekt Arten- und Klimaschutz ändern?
Wir als Grüne werden jetzt gebraucht für Fragen wie: Wer wird Präsident, welche Funktionen werden vergeben, werden wir vielleicht nicht in allen Niederungen mitreden können. Aber wir werden immer die zentralen Zukunftsfragen ansprechen. Zum Beispiel im Agrarbereich. Der jetzige Vorschlag zur EU-Agrarreform ist miserabel, er ist die Fortsetzung alter Agrarindustrie. Die Renationalisierung ist viel zu unehrgeizig. Wir können uns nicht erlauben, in die nächsten sieben Jahre mit solchen kleinpuscheligen Änderungen zu gehen. Das ist wichtig für den Artenschutz, wichtig für den Klimaschutz, und auch für die Bauern und ihre Familien. Wenn du schon Subventionen verteilst, musst du Anreize geben, zum Beispiel auf Ökolandbau umzustellen. Im letzten Jahr bei der großen Trockenheit haben wir beispielsweise gesehen, dass die Böden in den Ökobetrieben eine bessere Wasserhaltefähigkeit hatten. Es muss also Anreize geben. Und Agrarwende ist immer auch eine Chemiewende. Da müssen wir einen massiven Schwenk organisieren.
Beim Stichwort Chemiewende kommt unweigerlich Monsanto ins Spiel. Die jüngsten Veröffentlichungen etwa über Listen von Kritikern machen sprachlos. Wie soll man damit umgehen?
In der Szene, in der ich mich bewege, hat es schon früh Hinweise auf so etwas gegeben. Aber damals sind wir für verrückt gehalten worden. Jetzt, wo es über Gerichte das Licht der Welt erblickt, ist man entgeistert, was die sich rausnehmen. Es hat sich in den Verfahren in den USA herausgestellt, dass sich eine Frau als Journalistin akkreditiert hatte, die jedoch von Bayer-Monsanto kam. Eine bodenlose Unverschämtheit, dieses Ausforschen von Journalisten! Jetzt muss alles auf den Tisch. Und wenn Bayer jetzt glaubt, man könnte einfach mit geänderter Kommunikation reagieren, hat man sich geirrt. Es geht um das Geschäftsmodell dahinter. Und das Geschäftsmodell ist, mit patentiertem Saatgut, der Chemie dazu und demnächst auch der Digitalisierung, allen Informationen über Böden mehr die Ernährung der Welt zu beherrschen. Dieses Geschäftsmodell ist falsch. Ich will nicht in einer Welt leben, die uns mit viel Werbung beibringt, dass wir noch mehr Chemie brauchen. Wir müssen andere Systeme schaffen, damit wir am Ende nicht abhängig sind von drei, vier großen Saatgut-Chemie-Digitalkonzernen. Die Welternährung darf nicht von drei Konzernen abhängen. Die Welt wird sich nur mit Vielfalt souverän ernähren können, einer Vielfalt von Pflanzen und Saatgut, die den Bauern, nicht den Konzernen gehört.
Über die Agrarwende zur Ernährungswende. Erinnert das nicht an den viel diskutierten „Veggie Day"?
(lacht) Natürlich nicht. Wissen Sie, bei der Agrarwende geht es ja um den Erhalt von Klima, Böden, Grundwasser, Artenschutz. Bei der Ernährung geht es darum, wo das ist, was ich kaufe, unter welchen Bedingungen ist produziert worden? War das vorher ein Umweltzerstörer und will ich das essen? Und die zweite Frage ist die nach meiner eigenen Gesundheit. Ich sage: Eigentlich ist unser Ernährungssystem gescheitert. Es gibt Riesenindustriebetriebe, da wird viel Geld mit börsennotierten Unternehmen verdient und andererseits die Zunahme ernährungsbedingter Erkrankungen. Altersbedingter Diabetes heißt nicht mehr altersbedingter Diabetes, weil er schon mit zehn, elf, zwölf Jahren auftaucht. Zucker kommt dir überall hoch verarbeitet entgegen. Ernährungsbedingte Krankheiten lösen in Deutschland jedes Jahr Kosten von 30 Milliarden Euro aus. Es ist doch nicht gerecht: Die einen verdienen, die Allgemeinheit muss sich mit diesen 30 Milliarden herumschlagen, und die Individuen werden in ihren Lebenschancen bedroht.
Das System ist falsch, weil uns nicht unsere Grundnahrungsmittel entgegenkommen, sondern immer nur Süßigkeiten. Jeder Arzt sagt Ihnen: Stellen sie ihre Ernährung um. Ich meine, wir müssen den Ärzten folgen. Und wir müssen uns eine Zuckersteuer überlegen. Viele Unternehmen sehen das übrigens ganz gefasst, weil es ja lebensfreundlich ist, wenn sie ihre Angebotspalette umstellen. Zuckersteuer ist eigentlich eine Steuer, von der wir hoffen, dass sie keiner bezahlen muss, weil die Rezepturen und die Angebotspalette radikal verändert werden.
Haben die Grünen das oft nachgesagte Image einer Verbotspartei jetzt hinter sich gelassen?
Fallen wir doch nicht auf die Behauptungen derer rein, die mit ihrem Geschäftsmodell Raubbau an Böden, Wasser und Artenvielfalt betrieben haben. Das war doch ein großes Ablenkungsmanöver.
Also ich glaube, die aktuellen Ergebnisse zeigen, dass die Verteufelungen der Grünen nicht mehr funktionieren. Die Leute sehen die erdrückenden Fakten und suchen jemanden, der mit Disziplin, kontinuierlich und unerschrocken an den Themen dranbleibt. Da reicht es übrigens auch nicht, wenn du tolles Führungspersonal hast. Du musst auch in der Breite Leute haben, die sich der Mühe unterziehen, das umzusetzen. Und wenn ich sehe, was da überall in Stadt und Land los ist an neuer Ernährungsbewegung. Immer mehr Menschen wollen gut essen: gut für sie selbst, die Bauern und die Natur. Das läuft!