Ein Lobpreis der Lunch- und Abendkarte im „Selig"! Der neue Küchenchef Hendrik Ziolkowski zeigt im Restaurant direkt neben der Kirche am Herrfurthplatz, wie sich einfache Gerichte mit hintergründiger Raffinesse in Schillerkiez-taugliche Delikatessen verwandeln.
Halleluja! Das ist mal ein Einstand mit der neuen Lunch- und Abendkarte im „Selig". Das Lokal neben der Kirche auf dem Herrfurthplatz ist bislang für sein Frühstück und die entsprechend langen Schlangen bekannt. So weit so gut und beliebt. Aber das Eintreffen von Küchenchef Hendrik Ziolkowski und Sous-Chef Oded Shemesh Mitte Mai darf nun als echte kulinarische Bereicherung für den Schillerkiez gelten.
Okay, wir hatten schon vor einer Weile mit „Selig"-Betreiber Christian Birkelbach verabredet, dass wir kommen, wenn die neue Karte vom neuen Küchenchef rund läuft. Dass das aber auf einem solch hohen Niveau und in so kurzer Zeit passieren würde, hatte ich nicht erwartet. Nehmen wir die Brunnenkresse: Eine durch Brunnenkresseöl maiengrün leuchtende Sauerrahm-Espuma gesellt sich zu gabelfertigen Bissen vom glutenfreien, selbstgebackenen Kernbrot „nach dem Rezept meiner Oma", wie Hendrik Ziolkowski verrät. Marinierte Radieschenscheiben wurden in Zitronenläuterzucker eingelegt und mit Zitronenzesten gepimpt. Bröckchen von Ziegenkäse mit Mole, Brunnenkresse-Blättchen – dem eigenen Indoor-Grünzuchtschrank entnommen – plus „Pfefferkirschen": Das ist grüner, abwechslungsreicher Frühling.
Durch das kompakte Kernbrot sättigend, aber ebenso von großer, leichter Veggie-Rafifnesse. Die im Zinnsoldaten-Look herumstehenden Kirschen zeigen das Ausmaß der durchdachten Verfeinerung: Sie wurden in Rotwein sowie mit Lang-, Kubeben- und schwarzem Pfeffer eingelegt. Alles ist in einem appetitlichen frisch-farbenen Kranz angerichtet und mit Blättchen dekoriert – wer käme auf die Idee, dass es sich im Grunde um eine dekonstruierte Ziegenkäse-Stulle mit Kräutern und Kirschen handelt?
Sein Konzept überzeugte den Kirchenrat
„Vegetarische Gerichte verlangen eben viel Aufmerksamkeit", sagt Hendrik Ziolkoswski. Der kulinarische Respekt dem Produkt gegenüber ist unübersehbar. Nicht zuletzt ruft das beiläufig-gekonnte Arrangement der Zutaten auf dem Teller: „Hallo Fine Dining!" Genau aus diesem Bereich stammen der „Chef" und sein „Sous". Ziolkowski kochte zuvor im „Volt"; Shemesh im „Hotel am Steinplatz". Doch Ziolkowski hatte Lust auf Neues, Anderes. Christian Birkelbach, der das „Selig" seit zwei Jahren betreibt und kontinuierlich ausbaut, sowieso. Vor dem „Selig" war er 20 Jahre im Service und als Restaurantmanager, aber auch als Casting Director beim Film gewesen. Dann stellte sich ihm das ehemalige Gemeindecafé an der Genezarethkirche mehr oder weniger in den Weg. „Ein eigenes Restaurant war immer mein großer Traum", sagt er. „Es passte aber nie." Sicherheitshalber lernte der Perfektionist, der wissen will, wie jeder Bereich in seinem Laden funktioniert, noch das professionellere Kochen in der Küche vom Halleschen Haus. Vor gut zwei Jahren passte dann alles. Ein Kollege gab den Tipp, dass der Kirchenanbau zu mieten sei. Birkelbach stellte dem Gemeindekirchenrat als einer von 30 Bewerbern sein Konzept vor. Während er noch mit einer Freundin in der „Schillerbar" saß, kam der Anruf mit dem Zuschlag.
„Ich hatte nichts, vielleicht gerade mal hundert Euro auf dem Konto", sagt der 39-Jährige. Doch die Miete war bezahlbar, keine Ablöse, nur eine Kaution fällig. „Wenn ich das nicht gemacht hätte, wann dann? Das war meine Chance." Einen Mikrokredit später konnten die ersten Geräte gekauft und die Inneneinrichtung selbst gebaut werden. Inzwischen läuft das „Selig" so gut, dass kürzlich der Vertrag vorfristig und mit ordentlicher Perspektive verlängert wurde. So werden größere Investitionen möglich – in leistungsfähigere Geräte in der Küche und mehr Mitarbeiter. „Man darf nicht vergessen: Samstags starten wir um 10 Uhr, und um 10.30 Uhr sitzen 200 Leute da." 100 Plätze hat das „Selig" im rundum verglasten Innenraum an den langen Holztafeln und den kleineren Tischen drumherum. Dazu kommen weitere 120 auf der Terrasse, die unlängst um eine Outdoor-Bar erweitert wurde.
Fancy? Nein, gar nicht. So lautet nur die Rubrik, in die sich der Brunnenkresse-Teller auf der mit neun Positionen übersichtlichen Karte einfädelt. „Easy", „Good" und „Fancy" geben Orientierungshilfe. Ganz easy und leichtfüßig kommt etwa der Kopfsalat im Verbund mit eingelegtem Chicorée, Zitronenzesten, Rhabarber-Kompott und Leinsamen-Chips daher. Frisch, durchdacht und fern vom banalen Kneipensalat. Das ist einfach gut und sommerlich. Während ich vom Salat schwärme, isst die Begleiterin klammheimlich einen Brandade-Stick nach dem anderen auf. Hatte uns nicht Christian Birkelbach aufgefordert, die frittierten Sticks aus Räucherfisch und Kartoffeln heiß zu verspeisen? Mit Aioli und dem im Glasschrank vor Ort gezogenen Kräutersalat ist das genau das Richtige, wenn’s nicht gleich das große Programm zum „Essengehen" sein soll. Der Teller ist ein prima Begleiter, wenn ein, zwei, drei Bier nach etwas substanzieller Begleitung verlangen.
Abends wird bis 22.30 Uhr aufgetischt
Ein gut gekühlter Weißwein wäre wiederum der richtige Kompagnon für die mit Melone abgewandelte Gazpacho. Wassermelone wurde in Rote-Bete-Reduktion eingelegt und gegrillt. Das gibt fruchtige Intensität und Röstaromen ans kühle, leuchtendrote Süppchen ab. Die gegrillten Melonenstücke sind groß gewürfelt und eine schöne, mundige Abwechslung in der Textur. Hausgemachtes Holunderöl und ein paar frische Kräuter dazu – schon kann der Biss ins danebengelegte selbstgebackene Brot mit überbackenem Scamorza-Käse kommen. Das Brot ist ebenfalls glutenfrei – man nimmt die Bedürfnisse der Gäste ohne großes Tamtam ernst. Echt „good"!
Nur die Suche nach glutenfreien – und bezahlbaren – Fregula hält noch an, verrät Birkelbach. Für die typisch sardischen Hartweizengrieß-Kügelchen sollte der italienische Feinschmeckerfotograf, der von der Insel stammt, der Experte sein. Aber nein. „Meine Mama hat das nie gekocht." Also testen wir mit gebürtiger sardischer, philippinischer und deutscher Expertise selbst: Ich bin von den mit Paprika, Zwiebeln, Kräutern und Parmesan aromatisch geschmorten Knubbelchen höchst angetan. Das in seiner üppigen Cremigkeit an Risotto erinnernde Gericht ist von einer Dimension, der ruhig eine ganze Runde ums Tempelhofer Feld vorausgehen darf.
Bis 22.30 Uhr wird abends aufgetischt; los geht’s mit den À-la-Carte-Gerichten montags bis freitags ab 14 Uhr, am Wochenende ab 18 Uhr. Der Sonntagabend gehört allerdings den Pop-ups anderer Restaurants oder Köche.
Immer Ab 12 Uhr wechselnde Tagesspecials
Außerdem gibt’s wechselnde Tagesspecials ab 12 Uhr wie etwa die „Selig-Bowl". Die Specials sorgen für Abwechslung für die regelmäßigen Mittagesser – Mitarbeiter der Kirchengemeinde sind häufig darunter.
Das „Selig" ist unabhängig vom Kirchen- und Gemeindebetrieb, setzt aber auf gute Nachbarschaft. Christian Birkelbach hatte einst selbst kurz im Schillerkiez gewohnt – zu Zeiten, als der Tempelhofer Flughafen noch in Betrieb und die Nachbarschaft weit entfernt vom heutigen Hipsterhausen war. „Damals machte man eher einen großen Bogen um den Platz und seine Bewohner."
Undenkbar, im damaligen „Oma-Café" Gerichte aus hochwertigen, regionalen und Bio-Produkten anzubieten. Sie kosten zwischen acht und 16 Euro. Für letzteres liegt beispielsweise ein frei umhergelaufener, gebratener Bio-Hahn mit Einkorn, Spargel und Maiscreme auf dem Teller. „2017 sah die Gegend dann schon ganz anders aus." Familien waren zugezogen, internationale Jugend machte im angesagten Neuköllner Kiez Station. Ein kleiner samstäglicher Ökomarkt fasste auf dem Platz Fuß.
An warmen Tagen strömen die Menschenmengen aufs Tempelhofer Feld. Jeder, der durch die Herrfurthstraße zum Eingang will, muss um die mitten auf dem Platz stehende Kirche herum. Mögen recht viele Passanten dort Halt machen und das richtig gute und hintergründig raffinierte Essen im „Selig" goutieren! Dann klappt‘s hoffentlich auch in der dunklen Jahreszeit, die, nun ja, kulinarisch seligen Gäste erneut und dauerhaft ins Glashaus zu locken.
Zu wünschen wäre es dem „Selig" unbedingt!