Die SPD sucht in einem historischen Tief nach einer neuer Führung. Reinhard Klimmt fordert programmatische Schärfe und personelle Kontinuität.
Herr Klimmt, was empfindet ein gestandener Sozialdemokrat wie Sie bei den aktuellen Ergebnissen und Umfragen für die SPD?
Das tut schon weh! Ich verdanke der SPD viel, sehr viel. Die Partei hat mir unendlich viele Möglichkeiten eröffnet, ich konnte Politik gestalten, Ideen verwirklichen, war Teil einer Bewegung, die Saarbrücken, das Saarland, Deutschland, ja die Welt mitgestaltet hat. Es schmerzt, dass der Rückhalt in der Bevölkerung so nachgelassen hat, dass es diesen enormen Vertrauensverlust gegeben hat. Der trifft übrigens nicht nur uns, sondern auch die Linke, die vorher einige von denen aufgenommen hat, die die SPD verloren hat. Ich glaube aber, dass die SPD eine Zukunft hat, wenn sie bestimmte Lehren aus den letzten Jahren endlich ernst nimmt.
Die Partei ringt ja nun schon geraume Zeit darum, Lehren zu ziehen. Was ist aus Ihrer Sicht der Knackpunkt?
Das eine ist die Zögerlichkeit bei der inhaltlichen Themensetzung, deren Folge ein unscharfes Profil ist. Gleichzeitig hatten wir an der Spitze keine personelle Kontinuität. Man braucht an der Spitze einer solchen Organisation Personen, an denen man sich orientieren kann. Wahlen waren immer von gerade beherrschenden Themen bestimmt, Willy Brandt profitierte 1969 von der 68er-Studentenbewegung und 1972 von der Ostpolitik, Schröder mit Gummistiefeln von der großen Oderflut, Fukushima hat den ersten grünen Ministerpräsidenten ins Amt gespült, jetzt beherrscht das Klimathema die öffentliche Debatte. Ich habe übrigens als stellvertretender Vorsitzender der Grundsatzprogrammkommission für den Hamburger Parteitag (2007) vorgeschlagen, neben den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität auch Nachhaltigkeit als Grundwert der SPD aufzunehmen. Das ist leider abgelehnt worden. Ich war damals schon der Überzeugung, dass Nachhaltigkeit in allen Politikbereichen gelten muss. Das hätte man für die SPD deutlich machen müssen. Die Grünen haben sie im Namen, wir hätten sie plakativ in unseren Werten.
Es ist oft vom Ende des sozialdemokratischen Zeitalters geredet worden. Ist es jetzt so weit?
Die These stammt ja vom Soziologen Ralf Dahrendorf. Man kann es auch anders sehen: Das sozialdemokratische Zeitalter steht in voller Blüte: CDU, Grüne aber auch die Linke machen sozialdemokratische Politik. Die CDU ist doch längst keine konservativ-klerikale Partei mehr, was denen ja auch Probleme macht. Wir müssen auf dieser Basis unsere Angebote machen, inhaltliche und personelle. Und in beidem sind wir offensichtlich etwas schwach.
Wo liegt der Fehler?
Ich sehe mit Sorge, dass ein Teil der politischen Positionen nach Umfragen definiert wird. Sich an Umfragen zu orientieren führt im Ergebnis zu einem schrecklichen Durcheinander. Umfragen sind so volatil, wie Menschen das eben sind. Eigentlich müsste es umgekehrt sein. Wir bräuchten wieder erkennbare politische Ziele, damit Menschen sich bei Umfragen daran orientieren.
Wie ist zu erklären, dass die SPD bei der Europawahl auf dramatische 15 Prozent sinkt, bei den gleichzeitigen Kommunalwahlen im Saarland zwar auch verliert, aber trotz dieses Umfelds über 30 Prozent liegt?
Die Saar-SPD liegt traditionell etwa zehn Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Das liegt an einer gut geführten Organisation und an Kontinuität. Mit Heiko Maas und jetzt Anke Rehlinger an der Spitze ist das in den fast 20 Jahren seit meinem Rücktritt eine beachtliche Kontinuität. Wir sind durch gute Frauen und Männer in der Kommunalpolitik präsent. Die SPD muss in Zukunft diesen Schatz des Vertrauens auf der kommunalen Ebene hegen, pflegen und ausbauen und wieder auf die Bundesebene übertragen.
In Bremen ist die jahrzehntelange Vorherrschaft zu Ende, die SPD kann aber womöglich weiter regieren. Rot-Grün-Rot in einem westlichen Bundesland – ein Signal?
Zunächst einmal kann sich niemand beschweren, wenn die stärkste Partei (die CDU, Anm. d. Red.) nicht den Regierungschef stellen würde. Das hat es oft gegeben. Es wird sich zeigen, wie eine Zusammenarbeit eines Teils der Gesellschaft gelingt, den man als den linken oder fortschrittlichen begriffen hat. Es gibt vielleicht noch einmal eine Chance, weil gleichzeitig die CDU mit AKK eine stärker konservative Richtung einschlägt. Damit kann sich die bisherige Ununterscheidbarkeit wieder klären. Für uns gibt es noch ein Problem: Das aufgeklärte Bürgertum, wie ich es nennen will, hat in der Vergangenheit SPD gewählt, weil es beispielsweise für die Friedenspolitik und eine Politik sozialer Gerechtigkeit war. Diese gesellschaftliche Mitte, die früher stark bei der SPD war, ist jetzt weitgehend zu den Grünen abgewandert. Das liegt auch an unserer programmatischen Unschärfe.
Aktuell wird heftig darüber diskutiert, dass die traditionellen Volksparteien insbesondere die Jugend nicht mehr erreichen. Was passt da nicht mehr zusammen?
Es gibt einen starken kulturellen Wandel, der sich vor allem in der medialen Welt manifestiert. Die Kommunikation im Netz wird zur weiteren Zersplitterung der Gesellschaft beitragen. Das Weltbild Jugendlicher wird durch Angebote auf Youtube, Instagram und andere geprägt. Da hat die SPD offensichtlich keinen Weg gefunden, die CDU tut sich auch schwer. Ich zum Beispiel kann nicht anfangen, Influencer spielen zu wollen. Das geht nur, wenn man junge Leute mit einbindet, und das wird eine Aufgabe für die Parteien sein. Das kann aber nicht von oben herab laufen. Das Zweite ist: Die jungen Menschen haben ernsthafte Anliegen, und auf die geben wir selten die richtigen Antworten. Beispiel Klima. Aber es gibt ja auch noch andere Themen, etwa die Wohnungsfrage. Die Privatisierungen in diesem Sektor erweisen sich jetzt in den Ballungsräumen als schwerer Fehler. Wenn man über den Bundeshaushalt soziale Akzente setzen wollte, müsste man jetzt Wohnungsbauprogramme fördern. Das wäre in meinen Augen wichtiger als eine Rente mit 63.
Mit der Agenda-Politik kam aber auch die Entfremdung von einer großen, für die SPD zentralen Gruppe, den Gewerkschaften, die jetzt mit solchen Maßnahmen zurückgewonnen werden sollen.
In unseren Verhältnissen zu den Gewerkschaften sind wir auch in Zukunft bei den Themen Lebensarbeitszeit und Rente in großen Schwierigkeiten. Da gibt es verschiedene Linien in der SPD. Als Franz Müntefering (Parteichef 2004/2005 sowie 2008/2009, Anm. d. Red.) die Rente mit 67 gefordert hat, hat das noch mehr zur Entfremdung mit den Gewerkschaften beigetragen als Hartz IV. Für mich ist eines übrigens völlig klar: Wir werden immer älter, und wenn ich an unserem Rentensystem festhalten will, gibt es nur drei Stellschrauben. Erstens: Das Niveau sinkt. Jetzt gelten 48 Prozent. Ich bin der Meinung, man sollte sich an der Zielmarke 55 Prozent orientieren. Zweitens: Die Beiträge noch stärker erhöhen will politisch keiner. Dann bleibt nur der Weg: Länger einzahlen, also längere Lebensarbeitszeit, natürlich mit fließenden Übergängen. Wir reden davon, dass der Mensch Arbeit braucht und durch seine Arbeit Würde gewinnt, gestalten kann, sich selbst verwirklichen kann. Und dann glaubt man, dass man ihn mit Schlag 63 davon befreien muss? Das kann ich nicht nachvollziehen. Aber eine solche Debatte traut sich bei uns keiner.
Einer traut sich was und bezieht Prügel, Juso-Chef Kevin Kühnert. Braucht die SPD mehr Kühnerts?
Ja, ja! Natürlich ist das mit der Vergesellschaftung von Wohnungen Quatsch, da liegt er falsch. Aber das muss man aushalten. Was haben wir an Vorschlägen von früheren Juso-Chefs – auch Klimmt – alles ausgehalten! Das ist natürlich leichter, wenn an der Spitze der Partei Persönlichkeiten stehen, deren Ernsthaftigkeit und politischer Kurs außer Frage steht.