Das oberste europäische Gericht bemängelt, dass die Staatsanwälte in Deutschland nicht unabhängig sind: Denn ihr oberster Chef ist der Justizminister. Und das, obwohl die Unabhängigkeit der Justiz Grundprinzip des Rechtsstaats ist.
Carles Puigdemont, das Gesicht der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, lebt derzeit in Belgien und kämpft von dort aus weiter für die Loslösung seiner Heimat von Spanien. Dorthin will er derzeit nicht, denn die spanische Justiz hat nach dem (vorläufigen) Scheitern der Unabhängigkeit der Katalanen eine Anklage gegen ihn wegen „Rebellion" und Veruntreuung staatlicher Gelder erhoben. Weil er in der Zwischenzeit nach Deutschland geflohen war, hatte Spanien im März 2018 einen europäischen Haftbefehl gegen ihn erlassen. Aufgrund dessen wurde er wenig später von der deutschen Polizei festgenommen. Das zuständige Oberlandesgericht von Schleswig-Holstein stimmte einer Auslieferung zwar zu – aber nur wegen Veruntreuung, nicht wegen Rebellion. Das wiederum war den Spaniern zu wenig: Der spanische Ermittlungsrichter ließ den Haftbefehl deshalb wieder fallen. So kann sich Puigdemont derzeit weiter außerhalb Spaniens frei bewegen.
Der Fall zeigt, wie Politik und Strafrecht sich in die Quere kommen können. Geht es hier um Politik oder nur um Strafverfolgung? In Spanien sind Richter für den europäischen Haftbefehl zuständig. Das ist aber nicht überall der Fall – in Deutschland etwa sind es die Staatsanwälte. Und ein Staatsanwalt ist hierzulande nicht unabhängig, sondern weisungsgebunden – sein oberster Chef ist der Justizminister. Das macht die Sache heikler als in Spanien: Denn hätte der Fall umgekehrt gelegen, wären im Ausland leicht Zweifel aufgekommen, ob ein europäischer Haftbefehl aus Deutschland wirklich ohne politische Einflussnahme zustande gekommen wäre. Zum Glück, kann man da sagen, gibt es hier keine Abspaltungsstendenzen.
Nicht, dass es aktuell einen kritischen Fall gäbe. Aber auf die leichte Schulter ist das Thema dennoch nicht zu nehmen. Das hat jetzt ein Urteil des EuGH, des obersten Gerichts der EU, in Erinnerung gebracht: In Deutschland gibt es keine Garantie dafür, dass ein Staatsanwalt geschützt ist vor politischem Einfluss. Das ist aber eigentlich die Bedingung dafür, dass er einen europäischen Haftbefehl ausstellen darf. Dieser setzt gegenseitiges Vertrauen der Strafverfolgungsbehörden in allen Ländern voraus: Alle müssen sich sicher sein können, dass es dabei keine Einmischung einer Regierung – zum Beispiel in Person eines Justizministers – gegeben hat.
Strikte Trennung der drei Gewalten
Dass Justizbehörden unabhängig und sicher vor politischer Einmischung sein müssen, gehört eigentlich zum Grundkonsens über den Rechtsstaat. Wenn der US-Präsident seinen Justizminister und Generalstaatsanwalt auffordert, Ermittlungen zu unterlassen, wirft das ebenso Zweifel am Rechtstaat auf, wie der Druck auf die Unabhängigkeit der Gerichte in Ungarn und Polen. Gegen sie laufen derzeit deshalb sogar EU-Rechtstaatsverfahren.
Jedes Schüler lernt: Unser Staat hat drei Gewalten, die gesetzgebende, die ausführende und die rechtssprechende. Die sollen strikt voneinander getrennt sein. Soweit die Theorie. Die Praxis jedoch ist nicht die reine Lehre. Es gibt in Deutschland ein „externes Weisungsrecht" des Justizministers auf Staatsanwälte. „Die Staatsanwaltschaft hat in Deutschland eine Zwitterstellung, sie ist in die Exekutive integriert", sagt deshalb Thomas Wahl vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.
Bedeutet das Urteil nun, dass es auch in Deutschland um die Unabhängigkeit der Gerichte schlecht bestellt ist, ähnlich wie in Ungarn und Polen etwa? Jurist Wahl beruhigt: „In Ungarn und Polen geht es immerhin um Richter, nicht um Staatsanwälte." Die Unabhängigkeit der Richter zieht in Deutschland niemand in Zweifel. Zudem gehe es in Polen oder Ungarn um sehr konkrete Fälle der politischen Einflussnahme, während die Argumentation des EuGH gegen Deutschland doch sehr abstrakt geblieben sei. Ohne dass es einen konkreten Fall einer politischen Einflussnahme auf einen europäischen Haftbefehl gegeben hätte, hat er bereits die theoretische Möglichkeit dazu als kritisch gesehen.
Dabei hat es Einflussnahme der Politik auf die Staatsanwaltschaft in Deutschland tatsächlich ab und an gegeben. So wurden die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Gera gegen das „Zentrum für politische Schönheit" nach „Gesprächen" zwischen Justizminister, Generalstaatsanwalt und Staatsanwaltschaft binnen weniger Tage eingestellt. Die Gruppe hatte damals mit Aktionen gegen AfD-Rechtsaußen Björn Höcke für Aufmerksamkeit gesorgt. Hier kam es nach Ansicht vieler Juristen zu einer sinnvollen demokratischen Kontrolle der Strafverfolgung. Aber natürlich kann man das auch anders sehen, je nach politischer Couleur. Das Weisungsrecht des Justizministers auf die Staatsanwaltschaften habe durchaus seine Berechtigung, sagt auch Wahl. Es gebe eben Fälle, in denen es gut sei, dass eine demokratische Verantwortlichkeit für die Staatsgewalt ausübenden Staatsanwälte besteht. „Das Weisungsrecht ist in Deutschland zudem sehr gut gegen politischen Missbrauch abgesichert", sagt Wahl. Dennoch ist Deutschland damit im internationalen Vergleich in der Minderheit.
So könnte das EuGH-Urteil die Debatte unter Juristen um die Unabhängigkeit der deutschen Justiz wieder hochkochen lassen. In anderen Ländern haben die Justizbehörden bei der Strafverfolgung oft größere Freiheiten und gehen damit auch härter gegen amtierende Politiker vor. In Italien kann sich keine Regierung vor staatsanwaltlicher Verfolgung sicher sein, wovon der ehemalige Regierungschef Silvio Berlusconi ein Lied singen kann. Gegen den amtierenden italienischen Innenminister Matteo Salvini laufen derzeit zwei Ermittlungsverfahren wegen Freiheitsberaubung, weil er Flüchtlingsschiffe nicht an Land ließ. Ein anderes Beispiel sind die hartnäckigen Ermittlungen der Korruptionsbekämpfungsbehörden in Rumänien, die die dortige Regierung schwer unter Druck setzen.
Vorschriften, die noch aus der Kaiserzeit sind
Dennoch ist klar: „Die Stellung der deutschen Staatsanwaltschaft entspricht nicht europäischen rechtsstaatlichen Standards", sagt Udo Hochschild, ehemaliger Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Dresden und Betreiber des Blogs „Gewaltenteilung". Dabei habe das lange Tradition: „Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen", so steht es unter Paragraf 146 des Gerichtsverfassungsgesetzes, der für den kaiserlichen Obrigkeitsstaat geschaffen wurde. Am 1. Oktober dieses Jahres ist er seit 140 Jahren in Kraft. „Deutsche Staatsanwälte sind Staatsbeamte und damit befehlsunterworfene Teile der Exekutive, mit dem Justizminister an der Befehlsspitze. Von Unabhängigkeit keine Spur", sagt Hochschild. Wenn ein Politiker darauf Einfluss nehmen könne, ob ein Parteifreund von einer strafrechtlichen Verfolgung verschont werde, dann kommt es zu keinem strafgerichtlichen Verfahren. „Wo kein Ankläger, da kein Strafrichter", warnt er.
Wie geht es nun mit dem europäischen Haftbefehl weiter? Der dürfte ab sofort in Deutschland durch Richter auszustellen sein. Eine bessere Lösung wäre, dass Deutschland seine Staatsanwälte vom Weisungsrecht des Justizministers befreit. Es gäbe sogar eine dritte Alternative, meint Hochschild: Deutschland könnte auf europäischer Ebene eine Verminderung rechtsstaatlicher Standards anstreben, damit weiterhin europäische Haftbefehle durch deutsche Staatsanwälte ausgestellt werden können. Wahrscheinlich aber komme es nun zur „kleinen Lösung": Richter statt Staatsanwälte sind künftig für den europäischen Haftbefehl zuständig, so wie in vielen anderen Ländern heute schon.