Die Wissenschaftsjournalistin Kathrin Burger beschäftigt sich in ihrem neuen Buch eingehend mit Foodamentalismus – der Rolle der Ernährung als Ersatzreligion, über die sie auch im Interview spricht.
Frau Burger, wie sind Sie dazu gekommen, sich eingehend mit Ernährung und dem „Gesund-Ess-Wahn" zu beschäftigen?
In meiner Familie ging es immer schon um gesunde Ernährung. Meine Großmutter kochte fettarm, meine Tante hatte in den 80er-Jahren ein Reformhaus, meine Mutter machte regelmäßig „Brigitte"-Diäten und verfolgte, als sie an Krebs erkrankte, eine makrobiotische Ernährung. Ich habe dann Ökotrophologie studiert und schreibe seit 20 Jahren für diverse Medien über Ernährungs- und Umweltthemen. Im Freundes- und Bekanntenkreis ist mir seit einigen Jahren aufgefallen, dass jeder irgendeinem Diät-Trend folgt, etwa glutenfrei, obwohl keine Krankheit diagnostiziert wurde.
Warum bezeichnen Sie Essen und Ernährungskonzepte als Religion?
Alternative Ernährungskonzepte wie die Steinzeit-Diät oder der Veganismus haben für viele Menschen heute einen großen Stellenwert im Leben. Man nutzt diese als Identitätsplattform, grenzt sich anderen gegenüber ab, die Ernährungsregeln geben Halt und sind sinnstiftend, weil sie den Menschen in einer unüberschaubaren Welt verorten und Raum für Diskussionen über Ethik und Moral geben. Zudem versprechen die Ernährungstrends Gesundheit und ein langes Leben oder gar die Rettung der Welt. Die Art der Ernährung hat dann auch Einfluss auf andere Lebensbereiche. Veganer kaufen etwa keine Kleidung oder Kosmetik mit tierischen Inhaltsstoffen, manch ein Steinzeitköstler lehnt Stühle als nicht artgerecht ab. All dies – Heilsversprechen, Sinnstiftung, Gemeinschaft – ist ursprünglich Aufgabe der Religionen. Health-Food-Blogger und Kochbuchautoren werden nun zu Heils-predigern, ihre Ernährungsregeln ersetzen quasi die zehn Gebote.
Warum fokussieren sich viele Menschen in den letzten Jahren derart auf das Thema Ernährung?
Moralische Autoritäten sind verloren gegangen. Weder Kirchenvertretern noch Politikern oder Wissenschaftlern wird heute großes Vertrauen geschenkt. Immer weniger Menschen gehören heute einer Religion an. Zudem sind verschiedene Ordnungssysteme weggebrochen. Früher war man mehr in Familie und Heimat eingebettet. Eine Arzttochter hat die Praxis der Eltern übernommen, der Bauersohn den Hof. Heute kann jeder weit weg von zu Hause studieren und arbeiten, Mobilität wird sogar erwartet. Auch das System Familie ist vielfältiger geworden, es gibt Patchworkfamilien und weniger Rollenzuteilungen. Auch in der Ernährung oder der Freizeitgestaltung ist alles erlaubt und möglich. Doch diese Wahlfreiheit wird zunehmend als anstrengend empfunden.
Was versuchen wir damit zu kontrollieren?
Die diversen Ernährungsformen sind ja besonders dadurch geprägt, dass sie verzichtreich sind. Veganer verzichten auf alles Tierische, Low-Carbler auf Brot und andere Teigwaren, Clean-Eater auf jegliche Art von Fertigprodukten. Askese im Bereich der Ernährung vereinfacht einen Teil des Alltags erheblich. Es gibt sehr konkrete und starre Regeln und Rituale. Wer glutenfrei isst, kann auch glutenfreie Reisen buchen, wer vegan oder bio isst, schränkt auch weitere Konsumbereiche so ein, dass man beim Einkaufen nicht mehr groß überlegen muss.
Warum wird beim Thema Essen plötzlich die moralische Keule geschwungen?
Viele Gesundesser sind entspannt und freuen sich einfach daran, dass es ihnen mit ihrer neuen Ernährungsweise gut geht. Doch es gibt einen Teil, der sich durch seine eiserne Disziplin anderen überlegen fühlt. Die eigene Ernährungsweise wird als die allein richtige angesehen und wer diese nicht verfolgt, gilt als bedauerlicher Nichtwisser. Doch weil die Ernährungsweise für diese Menschen über „gut" und „böse" sowie „richtig" und „falsch" entscheidet, wird nun versucht, andere zu missionieren. Und wer sich nicht missionieren lässt, wird schließlich beschimpft. Das kann man besonders gut im Internet verfolgen, wo sowieso ein wenig empathischer Grundton herrscht. Hier hetzen nicht nur Veganer gegen Fleischesser, sondern auch gegen Vegetarier, Ethik-Veganer gegen Gesundheitsveganer, Vegetarier gegen Steinzeitköstler oder auch verbissene Low-Carbler gegen nicht so strenge Kohlenhydrat-Verächter. Umgekehrt sind auch einige Fleischesser angetreten, um gegen die Pflanzenfans zu wettern.
Worum geht es eigentlich beim „Gesundesswahn"? Genuss scheint ja eher in den Hintergrund zu treten.
Ein wichtiger Grund für die vielfältigen Essens-Trends ist der Wunsch nach Individualität und Selbstdarstellung. Wer plötzlich kein Brot oder Fleisch mehr isst, wird interessant. Er modelliert sein Selbstbild, zeigt, wer er ist, ohne es groß erklären zu müssen. Wer vegan isst, gilt als altruistisch, wer clean lebt als industriekritisch, wer glutenfrei isst, ist diszipliniert. Gleichzeitig verlangt die Gesellschaft zunehmend, dass die Menschen Verantwortung für ihre Gesundheit und die Umwelt übernehmen. Krankenkassen verteilen Bonuspunkte für Sportprogramme und vegane Ernährung. Derzeit wird über eine Plastik- oder Fleisch-Steuer diskutiert. Im Grunde ist es eine logische Folge, dass sich die Menschen diese Last aufbürden, die einen eben mehr, die anderen weniger. Doch niemand kann sich sicher sein, dass er mit einer gesunden Ernährung keinen Herzinfarkt erleidet, und auch ein Sportler kann an Diabetes erkranken. Das ist die Crux bei der Sache. Denn die Heilversprechen können nicht oder nur zu einem Teil eingelöst werden.
Welche Rolle spielt Genuss heute beim Essen?
Zwar geben viele Menschen „Genuss" als wichtigen Faktor beim Essen an. Angesichts der vielen Verzichtdiäten darf man aber bezweifeln, dass hier Genuss noch eine Rolle spielt. Das ist schade, denn Genuss ist nicht per se ungesund. Im Gegenteil: Laut empirischen Studien sind Genießer sogar schlanker und entspannter. Denn wer genießt, isst langsamer und spürt seine Sättigungssignale besser. Zudem werden beim Genuss mehrere Sinne gleichzeitig angesprochen. So wird man schneller psychisch satt und zufrieden.
Ab wann kann man eine Ernährungsform als extrem bezeichnen?
Es gibt natürlich keine starren Grenzen. Aber wenn sich jemand auffällig viel Zeit, also mehrere Stunden pro Tag, mit der Herstellungsweise von Lebensmitteln und mit Einkaufen und Kochen beschäftigt und dann auch nur noch über das eine Thema spricht, wird es extrem. Richtig problematisch wird es aber erst, wenn sich derjenige abschottet und nicht mehr zu Einladungen kommt oder sogar ins Restaurant sein eigenes Essen mitbringt.
Gibt es oft einen Auslöser, nach dem sich Leute in Ernährungskonzepte hineinsteigern?
Zur gesellschaftlichen Pflicht, etwas für seine Gesundheit zu tun, kommt meist ein konkreter Auslöser. Einige beginnen mit dem Auszug aus dem Elternhaus oder mit der Geburt eines Kindes eine neue Ernährungsweise. Andere stellen ihre Ernährung nach einer Trennung oder einem Burnout um. Oft sind auch Krankheiten der Auslöser für eine bestimmte Essweise. Auch Magerkuren können dazu führen, dass jemand sich immer mehr Lebensmittelgruppen versagt. Bei manchen sind es jedoch fließende Übergänge. In einer Studie über die Lebenswege von Veganern wurde gezeigt, dass diese Menschen schon von Kindheit an tierlieb sind, teils sind die Eltern Vegetarier. Ein Auslöser kann dann auch das Sehen eines schockierenden Films oder Videos aus der Massentierhaltung sein. Letztlich kann auch das Elternhaus eine Rolle spielen. Wenn die Eltern sehr rigide und perfektionistisch sind, kann dies Kinder so prägen, dass sie sich auch als Erwachsene sehr starre Essregeln aufbürden.
Warum zeigen wir unser Essen in den sozialen Medien?
Soziale Medien wie Instagram sind die idealen Orte, sich selbst darzustellen. Wer sich stundenlang mit der Inszenierung eines vermeintlich gesunden Essens beschäftigt, gilt als Experte und als gesundheitsbewusst. Man zeigt hier, wer man ist oder wer man sein möchte. Eine Studie hat sogar gezeigt, dass ein inszeniertes Essen besser schmeckt.
Was sind die Nebenwirkungen einer extremen Ernährung?
Bei vielen Ernährungsweisen wie der Rohkost, dem Veganismus oder der glutenfreien Ernährung kann es zu Mangelerscheinungen kommen. Tierische Lebensmittel liefern nun mal bestimmte Vitamine, die sich in Pflanzen nicht finden, wie das Vitamin B12. Das muss man als Tablette nehmen, was nicht alle machen. Auch Eisen, Jod oder Kalzium sind in einer veganen Ernährung rar, und es ist schon ein Wissen nötig, um sich mit allen Nährstoffen ausreichend zu versorgen. Glutenfreie Ernährung ist oft wenig ballaststoffreich und auch hier kommen einige Nährstoffe zu kurz. Doch mit der Fixierung auf das „gesunde Essen" auf der einen und das „böse, künstliche" Essen auf der anderen Seite werden auch Ängste geschürt. Manche Menschen werden in der Folge von regelrechten Vergiftungsängsten geplagt. Auch kommt es vor, dass Gesundesser beginnen, die Schulmedizin abzulehnen. Das zeigt sich etwa in der Debatte über Impfungen.
Welche Länder sind besonders vom Essenswahn betroffen?
Vor allem in den USA sind nicht nur immer weniger Menschen gläubig, hier sind auch besonders viele Menschen von ernährungsmitbedingten Krankheiten wie Übergewicht und Diabetes betroffen. Die Gegenbewegung fällt darum dort besonders drastisch aus. Auch in skandinavischen Ländern und in Italien ist ein Erklärungsmodell für die Beliebtheit von vegan, glutenfrei und Low Carb die zunehmende Säkularisierung. Italien ist jedoch ein Sonderfall. Hier könnten auch die ungelösten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Probleme den Wunsch nach Stabilität fördern. In Israel gibt es viele Veganer. Es könnte mit dem Palästina-Konflikt zu tun haben, dass sich junge Menschen von der Politik abwenden und ins Private flüchten. Andererseits passt Veganismus gut zu den jüdischen Essregeln, die etwa besagen, dass tierische und pflanzliche Speisen getrennt voneinander zubereitet werden müssen.
Wie wirkt sich der sogenannte Gesund-Ess-Wahn auf die Gesellschaft und das Zusammenleben aus?
Wer sich von der Tischgemeinschaft verabschiedet, stößt auch die anderen vor den Kopf. Er klinkt sich aus einem Teil seines Soziallebens aus. Das kann zu Familienstreits führen oder zum Zerbrechen von Freundschaften. Einige der Gesundesser isolieren sich dann vollkommen, andere finden Mitstreiter im Internet, auf Blogs oder in Foren. Zudem führt der Foodamentalismus zu einem Klassenkampf. Denn die Gesundesser sind meist diejenigen, die sich als allwissende Experten empfinden. Sie sind gebildet und schlank. Wer sich nicht gesund ernährt und übergewichtig ist, und das sind meist Menschen aus unteren sozialen Schichten, wird moralisch verurteilt. Auch die Gräben zwischen den Geschlechtern werden zementiert. Denn es sind vor allem Frauen, die dem Gesund-Ess-Wahn anhängen, während der Mann sich munter und ohne schlechtes Gewissen an Fleisch und Bier labt.
Waren Sie selbst auch schon auf der Suche nach der optimalen Ernährungsform? Welche Ernährungskonzepte haben Sie schon ausprobiert?
Als meine Mutter starb, war ich 14 Jahre alt. Dann begann ich makrobiotisch zu essen. Dadurch nahm ich ab, was ich gut fand, weil ich moppelig war. Außerdem verschwand meine Allergie auf Katzenhaare, und dadurch durfte ich meine Katze behalten. Ich habe das fünf Jahre durchgehalten, danach fand ich es zu einseitig, weil ich immer eine Extrawurst brauchte und weil ich dadurch auch kaum irgendwelche neuen Lebensmittel probieren konnte. Seither habe ich keine der Diäten mehr gemacht. Aber ich versuche natürlich schon ausgewogen und vielseitig zu essen, von nichts zu viel, aber schon immer, worauf ich Lust habe. Ich glaube, der schlimmste Fehler ist, sich seine Lieblingsspeisen zu verbieten. Das macht schlechte Laune und ist auf Dauer auch nicht gesund. Besser ist es, die ungesunden Sachen aus der Ernährungsweise herauszunehmen, die einem nicht schwer fallen. Der eine kann besser auf Fleisch verzichten, der andere besser auf Süßigkeiten, der dritte besser auf Weißbrot.
Empfanden Sie die makrobiotische Ernährung eher als gut oder als schlecht?
Die Makrobiotik fand ich gut, weil sehr viel gekochtes Gemüse dabei ist. Ich liebe das, während ich auf Salat gut verzichten kann. Zudem isst man weder Fleisch noch Eier oder Milch, nur Fisch ist erlaubt, und Tierwohl war und ist mir immer wichtig gewesen. Gefallen hat mir auch das Ritualhafte, da man sehr genau schaut, dass von allem etwas auf dem Teller ist: Getreide, Gemüse, Eiweißhaltiges wie Tofu oder Pilze, und darüber kann man geröstete Samen geben. Ja, ich gebe zu, das hat mir Halt und Struktur in einer schwierigen Zeit gegeben.
Welche Ernährungstrends sind aktuell en vogue?
Das Clean Eating ist eine mit Superfood aufgehübschte Vollwertkost, Veganer meiden alles vom Tier, auch Milch, Eier und Honig. Steinzeitköstler essen dafür viel Gemüse, Obst, Nüsse, Fleisch und Fisch, lehnen jedoch Milch, Getreide und Hülsenfrüchte als unverdauliches Zeug ab. Glutenfreie Kost zeichnet sich dadurch aus, dass Weizen, Roggen und Gerste auf den Index kommen. Dafür werden Maismehl-Nudeln gemampft oder Reiscracker gesnackt. Low Carb kommt mit wenigen oder gar keinen Kohlenhydraten aus, hier sind neben Pasta und Brot auch Kartoffeln tabu. Einige halten Milch für krebserregend und trinken lieber Cappuccino mit Hafermilch, andere essen nur zwei Mahlzeiten am Tag oder trinken täglich einen Aktivkohle-Smoothie mit Wildkräutern, damit der Körper endlich einmal entgiften kann. Jede dieser Kostformen beansprucht natürlich für sich, die allergesündeste zu sein.
Es gibt ja auch sehr viele ernährungswissenschaftliche Studien, die sich widersprechen und viele Wissenschaftler haben andere Meinungen zum selben Thema. Wie kann man hier noch den Durchblick behalten und die „Wahrheit" finden?
Die Ernährungsempfehlungen der Fachgesellschaften sind eigentlich ziemlich identisch. Eine gesunde Ernährung sollte pflanzenbetont und vielfältig sein, das gilt für die Vorbeugung von Übergewicht, Diabetes, Herzkrankheiten oder Krebs gleichermaßen. Natürlich gibt es bei einigen Fragen unterschiedliche Meinungen. Das ist auf der einen Seite ganz normal, weil eine Wissenschaft sich ja durch neue Studien stets weiterentwickelt. Und wenn sich Studien mehren, die immer die gleichen Ergebnisse liefern, so werden irgendwann auch die Ernährungsregeln geändert, wie dies kürzlich beim Thema Ei der Fall war. Und natürlich sind diese dafür zuständigen Gremien eher träge, weil sie eben abwarten, bis die Beweislage eindeutig ist. Doch dazu kommen selbst ernannte Ernährungsexperten und auch Industrie-Forscher, die das komplette Gegenteil behaupten, und dadurch entsteht beim Verbraucher der Eindruck, es würden sich ständig die Empfehlungen ändern. Die Empfehlung „pflanzenbetont und vielfältig" ist jedoch für viele Menschen auch schwierig umzusetzen. Sie wollen lieber konkrete Regeln, weil dies den Alltag vereinfacht.
Weiß eigentlich überhaupt irgendjemand, was gesund ist?
Das ist schwierig zu beantworten. Denn einerseits ist Ernährung ja nur ein Teil des Lebens, der die Gesundheit beeinflusst. Auch die Gene und andere Lebensstilfaktoren wie Schlaf, Bewegung, Stress oder Rauchen spielen eine wesentliche Rolle. Einige Krankheiten sind auch einfach Schicksal und nicht beeinflussbar. In Sachen Ernährung ist klar, dass es nicht die eine gesunde Ernährungsweise gibt, sondern, dass viele verschiedene Ernährungsmuster gesund sind. So essen Japaner fettarm und kohlenhydratreich, während die traditionelle Kreta-Diät sehr fettreich ist.
Dennoch sind beide Ernährungsweisen mit Langlebigkeit verbunden. Vielleicht kann man eher umgekehrt sagen, dass man weiß, was ungesund ist. Wer jeden Tag nur Fast Food isst, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann ein Gesundheitsproblem bekommen. Aber die meisten von uns könnten sich entspannen und müssten sich nicht so viele Sorgen darüber machen. Viele Menschen essen von Haus aus gesünder als sie glauben.