Die Verfolgungsfahrt von O. J. Simpson am 17. Juni 1994 und der anschließende Prozess gehören beide zu den größten TV-Ereignissen der Geschichte. Angeklagt wegen zweifachen Mordes, wurde der frühere Football-Star und Schauspieler von der Jury freigesprochen. Ein Urteil, das bis heute umstritten ist.
Mike Gilbert weiß, was für einen Schatz er da in seiner Garage stehen hat. „Es heißt, es sei das zweitberühmteste Auto der Geschichte, nach dem Wagen, in dem Kennedy erschossen wurde", sagt er über den weißen Ford Bronco SUV. Sammler hätten ihm dafür bereits bis zu 300.000 Dollar geboten. Doch Gilbert, der frühere Agent von Footballspieler und Schauspieler O. J. Simpson, lehnte ab. „Es handelt sich um ein Stück amerikanische Geschichte", sagt er.
Am 17. Juni 1994 war O. J. Simpson mit eben jenem Ford Bronco vor der Polizei geflohen. Die Verfolgung zog sich über Stunden hin, live übertragen auf zahlreichen Fernsehstationen. 95 Millionen Zuschauer schalteten ein – es war eines der größten TV-Ereignisse der amerikanischen Geschichte und verdrängte auf den Bildschirmen sogar das Finalspiel der nordamerikanischen Basketball-Profiliga NBA sowie das Eröffnungsspiel der Fußball-WM 1994 in den USA, die am selben Tag begann.
Simpson war zu seiner aktiven Zeit einer der bekanntesten American Footballer Amerikas gewesen. Der Runningback spielte zwischen 1969 und 1979 für die Buffalo Bills sowie kurzzeitig für die San Francisco 49ers und wurde in dieser Zeit gleich zweimal als bester Spieler der Liga ausgezeichnet. Sein Spitzname lautete „The Juice" (zu deutsch: „der Saft") – wegen der Abkürzung seiner Vornamen O. J. wie Orange Juice, aber vor allem auch wegen seines flüssigen Laufstils. Nach dem Ende seiner Sportlerlaufbahn hatte Simpson zudem als Schauspieler Karriere gemacht, unter anderem in mehreren Filmen der Reihe „Die nackte Kanone" mit Leslie Nilsen. Zwischenzeitig war er sogar für die Rolle des „Terminators" im Gespräch gewesen, die dann jedoch an Arnold Schwarzenegger ging.
Ein Idol für viele Afroamerikaner
Gerade für schwarze Amerikaner war Simpson ein Idol. 1994 geriet der damals 46-Jährige allerdings unter Mordverdacht. Seine frühere Ehefrau Nicole Brown Simpson sowie ein Bekannter von ihr, Ronald Goldmann, wurden am 12. Juni 1994 tot in ihrem Haus aufgefunden. Beide Opfer wurden mit mehreren Messerstichen ermordet – bei Brown waren die Verletzungen am Hals so schwer, dass sie beinahe enthauptet wurde. Schnell galt Simpson als Hauptverdächtiger, auch weil an seinem Fahrzeug, auch einem Ford Bronco, Blutspuren entdeckt wurden. Zudem war bekannt, dass es während seiner Ehe mit Nicole mehrfach zu Fällen häuslicher Gewalt gekommen war. Insgesamt neunmal musste die Polizei deswegen ausrücken, 1989 war Simpson wegen Misshandlung seiner Ehefrau zum Sozialdienst sowie zu einer Geld- und einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. 1992 wurde die Ehe schließlich geschieden.
Am Abend der Tat war der Ex-Footballstar nach Chicago geflogen. Für die Tatzeit konnte er kein Alibi vorweisen. Als sich nach seiner Rückkehr die Indizien für eine mögliche Täterschaft verdichteten, wurde am 17. Juni offiziell ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Doch O. J. Simpson entzog sich der Festnahme und flüchtete im Wagen seines früheren Mitspielers und Freundes Al Cowlings. Dieser saß am Steuer, während Simpson hinter dem Fahrersitz kauerte, sich eine Pistole an die Schläfe hielt und damit drohte, sich zu erschießen. Über seinen Anwalt Robert Kardashian ließ er im Fernsehen folgende Botschaft verlesen: „Alle müssen begreifen, ich habe nichts mit dem Mord an Nicole zu tun. Ich habe sie geliebt, liebe sie und werde sie immer lieben. Egal was die Presse geschrieben hat, Nicole und ich hatten eine großartige Beziehung. Mein letzter Wunsch: Lasst meine Kinder in Ruhe… Ich hatte ein tolles Leben."
Erst nach über 100 Kilometern stoppte der Wagen an Simpsons Anwesen, nach einer weiteren Stunde mit Verhandlungen mit der Polizei ließ er sich schließlich festnehmen. Von einer Verfolgungsjagd, wie oft geschrieben wird, konnte allerdings keine Rede sein. Vielmehr fuhr der Wagen mit niedriger Geschwindigkeit, während die Polizisten keine Anstalten machten, das Fahrzeug zu stoppen. Zahlreiche Schaulustige stoppten am Straßenrand, winkten oder feuerten Simpson sogar an. Viele von ihnen skandierten „Juice, Juice, Juice".
Der Strafprozess gegen ihn begann am 9. November 1994. Auch dieser wurde live im Fernsehen übertragen und rangiert in der Rangliste der größten amerikanischen TV-Ereignisse auf Platz drei hinter den Terrorangriffen vom 11. September 2001 und dem Hurrikan Katrina im Jahr 2005. Ein Beobachter beschrieb den Prozess gar als das „größte öffentliche Spektakel, seit Jesus Christus vor Pontius Pilatus stand".
Augenzeugen für den Mord gab es zwar ebenso wenig wie Fingerabdrücke, auch eine Tatwaffe wurde nie gefunden. Dennoch war die Beweislast aus Sicht der Anklage erdrückend. Simpson habe kein Alibi, dafür aber ein Mordmotiv. Er habe die Trennung von seiner Frau nie überwunden und sei auch nach der Scheidung noch besitzergreifend und eifersüchtig gewesen. Als sie sich endgültig von ihm abzuwenden drohte, habe er in seiner Wut und Verzweiflung den Entschluss gefasst, sie zu töten. Sowohl am Tatort als auch in Simpsons Auto und in dessen Haus wurden Blutspuren entdeckt, die mittels einer DNA-Analyse Simpson und den beiden Mordopfern zugeordnet wurden, außerdem blutverschmierte Kleidungsstücke. Die Staatsanwaltschaft sprach von einer Blutspur, die vom Tatort zu Simpsons Residenz führe und keinen Zweifel an seiner Schuld lasse.
Blutspur bis zu Simpsons Residenz
Die Verteidiger zweifelten dagegen sowohl das Motiv als auch den Zeitpunkt der Tat an. Hätte diese sich nur eine halbe Stunde vor oder nach der Uhrzeit abgespielt, die von der Anklage angegeben wurde, wäre O. J. Simpson als Täter kaum noch infrage gekommen. Zweifel hegten sie auch an den forensischen Beweisen: Spuren seien falsch oder nur unzureichend gesichert, Blutproben im Polizeilabor kontaminiert und DNA durch falsche Handhabung zerstört worden. Als Simpson den blutigen Handschuh mit DNA-Spuren der beiden Ermordeten anprobierte, der auf seinem Grundstück gefunden wurde, passte dieser nicht. „If it doesn’t fit, you must acquit", formulierte daraufhin einer seiner Anwälte – „Wenn sie nicht passen, müsst ihr ihn gehen lassen."
Zudem brachte die Verteidigung schwere Rassismusvorwürfe gegenüber der Polizei von Los Angeles vor, insbesondere gegen den Hauptermittler Mark Fuhrmann. So wurde bekannt, dass dieser sich bereits in der Vergangenheit mehrfach rassistisch geäußert hatte. Da die Jury überwiegend von Schwarzen besetzt war, könnte gerade dieser Aspekt am Ende den Ausschlag gegeben haben. Einer der Geschworenen verriet später, der Freispruch für Simpson sei auch „Rache" für Rodney King gewesen. Der schwarze Amerikaner war 1992 nach einer Personenkontrolle von einer Gruppe überwiegend weißer Polizisten des Los Angeles Police Departments festgenommen und brutal misshandelt worden. Die Polizisten waren trotzdem freigesprochen worden, was zu wochenlangen Rassenunruhen in Los Angeles mit Dutzenden Todesopfern geführt hatte.
O. J. Simpson wurde freigesprochen. Das Urteil war umstritten, doch eine Berufung war nach amerikanischem Recht nicht möglich. Im anschließenden Zivilprozess wurde Simpson 1997 allerdings zu einer Schadensersatz-Zahlung in Höhe von 33,5 Millionen US-Dollar an die Hinterbliebenen verurteilt. 2008 kam Simpson dann doch noch hinter Gitter: Wegen eines bewaffneten Raubs und Körperverletzung verurteilte ihn ein Gericht zu einer Haftstrafe von 33 Jahren. Zusammen mit Komplizen war er bewaffnet in ein Hotelzimmer in Las Vegas eingedrungen und hatte zwei Sammler von Fanartikeln gezwungen, persönliche Erinnerungsstücke herauszugeben. 2017 kam er vorzeitig aus dem Gefängnis frei.
Im Mordfall halten ihn die meisten Schwarzen in den USA nach wie vor für unschuldig. Die weiße Bevölkerung ist dagegen überwiegend der Ansicht, hier sei ein Mörder mit seiner brutalen Tat davongekommen.