Die deutsche U21-Nationalmannschaft rechnet sich bei der EM in Italien und San Marino Titelchancen aus. Dafür müssen die Spieler aber auch die Tugenden ihrer Vorgänger zeigen.
Offiziell geht Deutschland bei der U21-Europameisterschaft als Titelverteidiger an den Start, doch Trainer Stefan Kuntz mag das T-Wort überhaupt nicht. „Bei Juniorenteams von einer Titelverteidigung zu sprechen, finde ich schwierig", sagt Kuntz, „denn der Kader unterscheidet sich zu 80 Prozent von dem, der vor zwei Jahren den Titel holte." 2017 hatte die deutsche U21 in Polen unter anderem dank Serge Gnabry und Thilo Kehrer, die heute Stammkräfte in der A-Nationalmannschaft sind, den großen Coup gefeiert. Zwei Jahre später will die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) bei der EM in Italien und San Marino (16. bis 30. Juni) diesen Triumph mit einem neuen Personal wiederholen.
„Wir haben eine starke Mannschaft, und ich glaube, dass wir gute Chancen haben", sagte Torhüter Alexander Nübel. „Wenn bei uns alles passt und wir auch das nötige Glück haben, können wir den Titel verteidigen. Die spielerische Klasse ist auf jeden Fall vorhanden." In der Tat stehen im Kader der DFB-Junioren zahlreiche Spieler, die den Durchbruch in der Bundesliga bereits geschafft haben. Neben dem Schalke-Torhüter Nübel setzt Trainer Kuntz auch auf Jonathan Tah (Bayer Leverkusen) und Lukas Klostermann (RB Leipzig), die nach den EM-Qualifikationsspielen mit der A-Nationalmannschaft in Weißrussland und gegen Estland zur U21 nachreisen.
„Sie brauchen auch noch ein bisschen die Geborgenheit"
Der 19-jährige Shootingstar Kai Havertz von Bayer Leverkusen wird dagegen nicht zum Team stoßen. Kuntz will darüber nicht klagen, doch er hätte natürlich gern die besten Spieler dieses Alters beisammen. „Wenn einer wie Kai Havertz die Fähigkeiten mitbringt, geben wir ihn direkt zur A-Mannschaft weiter", sagt er und vergleicht: „Im Ausland ist das anders: In Spanien beispielsweise sind die jungen Talente verpflichtet, in der U21 zu spielen." Auch Englands Nationaltrainer Gareth Southgate verzichtete darauf, U21-Spieler für die Nations League zu nominieren. Jungstars wie Aaron Wan-Bissaka (Crystal Palace), Phil Foden (Manchester City) oder James Maddison (Leicester City) sollen stattdessen den Siegeszug des englischen Nachwuchses im Juniorenbereich fortsetzen. Auch Spanien mit den beiden Real-Madrid-Profis Jesús Vallejo und Dani Cabellos werden größere Titelchancen eingeräumt als Deutschland.
Doch die DFB-Auswahl hat bereits beim 1:0-Sieg im vergangenen EM-Finale gegen Spanien gezeigt, dass sie mit Leidenschaft und Willen die individuell besser besetzten Mannschaften schlagen kann. An diesen Tugenden feilte Kuntz auch im neuntägigen Trainingslager in Südtirol. Hier habe er nicht nur an Taktik und Technik gearbeitet, erklärte Kuntz, sondern auch „eine Form von Familiengefühl" zu vermitteln versucht. „Sie brauchen auch noch ein bisschen die Geborgenheit, in der sich jeder kennt und jeder wohlfühlt", sagte der Europameister von 1996. Am Ende aber, das wissen Trainer und Spieler, zählt nur der Erfolg auf dem Platz. Und dem stellt sich das Team. „Wir haben ambitionierte Ziele", sagte Kuntz. Er wolle mindestens ins Halbfinale, denn dann hätte Deutschland das Ticket für die Olympischen Sommerspiele in einem Jahr in Tokio gelöst. Das olympische Turnier vor drei Jahren in Rio de Janeiro mit dem Final-Drama gegen Gastgeber Brasilien um Superstar Neymar hat Lust auf mehr gemacht.
Zunächst aber müssen Deutschlands Junioren die Vorrunde bei der EM überstehen – und das wird beileibe kein Spaziergang. Gleich im Auftaktspiel am 17. Juni in Udine erwartet Kuntz ein „starkes Dänemark", das mit dem Dortmunder Profi Jacob Bruun Larsen an den Start geht. Aber das DFB-Team hat gute Erinnerungen: Auf dem Weg zum Titelgewinn vor zwei Jahren setzte es sich gegen die Dänen mit 3:0 durch. Drei Tage später wartet in Triest Serbien, das Kuntz momentan für „die beste Mannschaft aus Osteuropa" hält. Hauptgrund dafür ist Stürmerstar Luka Jovic. Der Frankfurter, der im Sommer für 70 Millionen Euro zum spanischen Rekordmeister Real Madrid wechselt, dürfte bei der U21-EM zeigen wollen, dass er das viele Geld auch wert ist. Zum Gruppenabschluss geht es am 23. Juni erneut in Udine gegen Österreich, zum „ewig jungen Duell mit unserem Nachbarn", so Kuntz, der von einer „interessanten Gruppe" spricht. Deutschland ist Favorit, allein schon wegen der beeindruckenden EM-Qualifikation mit 25 von 30 möglichen Punkten. Ein Ausrutscher könnte aber schon das Aus bedeuten. Nur die drei Gruppensieger sowie der beste Gruppenzweite ziehen ins Halbfinale ein. Das Endspiel findet am 30. Juni im 25.133 Zuschauer fassenden Stadio Friuli des italienischen Erstligisten Udinese Calcio statt.
Um eine Chance aufs Finale zu haben, braucht das DFB-Team einen Nübel in Topform. Der hochtalentierte Torhüter, der bei der U21 stets als Nummer eins gesetzt war, hat sich in der Rückrunde auch bei seinem Verein Schalke 04 den Stammplatz erkämpft. Und nicht nur das: Nübel war fast der einzige Lichtblick des böse abgestürzten Vizemeisters der Vorsaison und hat sogar das Interesse von Rekordmeister Bayern München auf sich gezogen. Schalke würde lieber heute als morgen den in einem Jahr auslaufenden Vertrag verlängern, doch Nübel will erst nach der Europameisterschaft über seine Zukunft entscheiden. „Gerade als Torwart muss man voll fokussiert sein und sollte sich von nichts ablenken lassen", sagte Nübel der „Sport Bild". „Dieses Thema ist völlig aus meinem Kopf verbannt." Sein Berater Stefan Backs, der pikanterweise auch den auf Schalke zur Nummer zwei degradierten Ralf Fährmann betreut, dürfte im Hintergrund aber bereits fleißig verhandeln. Drei Optionen ergeben sich für Nübel: 1. Den Vertrag auf Schalke mit einer relativ geringen Ausstiegsklausel verlängern und Spielpraxis sammeln. 2. Den Vertrag auslaufen lassen und in einem Jahr ablösefrei und mit einem satten Handgeld zu einem Topclub wechseln. 3. Sofort zu den Bayern wechseln und sich dort entweder zunächst mit der Rolle des Vertreters von Manuel Neuer zufriedengeben oder sich für ein oder zwei Jahre ausleihen lassen.
Experten sehen beim reaktions- und nervenstarken Nübel, der mit dem Ball am Fuß herausragend ist, eindeutige Parallelen zu Neuer, der ebenfalls eine Schalke-Vergangenheit hat. „Ich habe ihn beobachtet", sagt Neuer selbst, „er hat seinen Job sehr gut gemacht." Der Nationaltorhüter hofft, dass sein möglicher Konkurrent der kommenden Jahre an seine bisher gezeigten Leistungen nun auch in Italien anknüpft: „Es ist wichtig, dass er jetzt ein guter Rückhalt für die U21 bei der EM ist." Neuer hatte die Junioren-Auswahl vor zehn Jahren in Schweden mit herausragenden Auftritten zum Titel geführt. „Wir haben das Sprungbrett U21 damals genutzt", sagte Neuer, „es war eine tolle Erfahrung für uns alle, 2010 waren dann viele Spieler bei der WM in Südafrika dabei."
„Ich bin heiß auf dieses Turnier"
Die Situation hat sich in der A-Nationalmannschaft zwar grundlegend geändert – viele Positionen sind bereits von Toptalenten besetzt –, doch U21-Spieler wie Arne Maier wollen die Bühne bei der EM in Italien und San Marino dennoch nutzen, um sich bei Bundestrainer Joachim Löw noch stärker ins Gedächtnis zu spielen. „Ich bin heiß auf dieses Turnier", sagte Maier, der nach einer Knieverletzung in der Reha für eine Teilnahme schuftete. Gemeinsam mit seinem Berliner Teamkollegen Maximilian Mittelstädt will Maier „um den Titel mitspielen".
Vielleicht ist es eine der letzten deutschen U21-Mannschaften, die sich für lange Zeit dieses Ziel auf die Fahnen schreiben kann. In den jüngeren U-Bereichen schwächelt der deutsche Nachwuchs, Ausnahmetalente wie Havertz oder Leroy Sané sind nicht in Sicht. „Wenn man ein bisschen tiefer schaut, muss man sich Sorgen machen, was in vier, fünf Jahren nachkommt", sagte jüngst Oliver Bierhoff als Direktor Nationalmannschaften im DFB: „Andere Nationen sind agiler, flexibler und neugieriger." Der DFB steuert bereits dagegen, im Februar wurde ein Fünfjahresplan vorgestellt. Dieser sieht unter anderem eine Rückkehr zur „Bolzplatz-Mentalität", neue Spiel- und Wettkampfformen, eine veränderte Trainingsausbildung und größere Verzahnungen mit den Bundesligisten vor. Gesucht werden wieder mehr Individualisten, der Mut zum Risiko soll wieder belohnt werden. All diese Gedanken kommen keinen Tag zu früh, findet Matthias Sammer. „Ich glaube, dass uns andere Nationen in unserer Grundstärke überholt haben. Nicht nur fachlich-inhaltlich, sondern auch mit dem größeren Hunger und Willen", sagte der Europameister von 1996. Stefan Kuntz und seine Spieler wollen bei der EM beweisen, dass diese Kritik nicht auf ihre Generation zutrifft.