Seit Anfang Februar ist Hannes Vitense Team-Coach des Deutschen Schwimmverbandes. Gemeinsam mit Team-Chef Bernd Berkhahn bereitet er die DSV-Nationalmannschaft auf die Weltmeisterschaft im Juli in Gwangju vor.
Herr Vitense, Sie sind nun vier Monate im Amt, das erste Großereignis steht vor der Tür. Ist die Findungsphase im neuen Job bereits abgeschlossen?
Bernd Berkhahn und ich kennen uns seit 15 Jahren, wir hatten also eine lange Einarbeitungsphase gar nicht nötig. Wir sind ja auch beide schon länger in dem Metier, haben also kein Neuland betreten. Gewisse Dinge müssen sich einspielen, aber ich denke, dass wir das gut hinbekommen haben.
Team-Coach, Team-Chef? Was muss man sich darunter vorstellen? Wie sieht die Aufgabenverteilung aus?
Die Aufgabe von Bernd ist, dass er die Spitzenathleten am Bundesstützpunkt in Magdeburg trainiert und die Nationalmannschaft der Männer/Frauen zu den internationalen Meisterschaften führt. Salopp formuliert, ist er der Mann am Beckenrand und der Chef in Südkorea. Der Team-Coach unterstützt die Maßnahmen von Bernd, ist darüber hinaus für die strategische Planung der Kaderathleten und Nationalmannschaften im Jahresverlauf zuständig und Fachvorgsesetzter aller hauptamtlichen DSV-Trainer im Beckenschwimmen.
Nach vier Monaten Arbeit: Wie fällt Ihr erstes Fazit aus? Wie steht es um den organisierten Schwimmsport in Deutschland auch im Vergleich mit den großen Nationen Australien und den USA?
Da müssen wir realistisch sein. Diese großen Schwimmnationen liegen vor uns, zudem wird die internationale Konkurrenz auch immer größer. Das hängt allerdings auch davon ab, wie die gesamtgesellschaftlichen Umstände sind. Sie müssen mal sehen, dass in Australien jeder der 25 Millionen Einwohner vor seiner Einschulung einen Schwimmtest machen muss. Das ist dort ein Volkssport, fast jeder betreibt es als Hobby.
Und in Deutschland bezeichnete der „Spiegel“ Schwimmen kürzlich als aussterbenden Volkssport.
Ja, das ist ein zentrales Problem. Es gibt eine immer größere Anzahl an Kindern, die Schwimmen nicht mehr lernt. Abseits von den gesundheitlichen Vorzügen dieses Sports ist das für einen Spitzenverband natürlich ein Problem. Es hängt auch viel mit den strukturellen Gegebenheiten zusammen. Viele Hallen und Bäder wurden in den 60er-Jahren gebaut, die sind in die Jahre gekommen. Das sind dann keine attraktiven Sportstätten mehr, in denen sich Kinder gern aufhalten. Hier ist zweifelsohne die Politik gefordert. Ich formuliere es mal so: Je mehr Kinder schwimmen, desto mehr Talente sind dabei, desto mehr können vielleicht eine Karriere im Leistungsbereich anstreben.
Leichtathleten wie Robert Harting haben in der Vergangenheit häufig kritisiert, dass die Athleten in Deutschland unterbezahlt wären? Bleiben Talente auf der Strecke, weil Eltern ihnen raten, sich doch mehr auf die Schule zu konzentrieren?
Nein, das sehe ich nicht so. Wir haben in Deutschland an den Bundes- und Landesstützpunkten in der Regel eine ziemlich gute Infrastruktur, sind sehr weit vorne im sportwissenschaftlichen Bereich und die Verzahnung von Schule und Training ist sehr eng. Hier fällt keiner durchs Abitur, weil er zu viel schwimmt. Im Gegenteil, ich erlebe viel mehr, dass die Athleten durch ihren engen Zeitplan sehr strukturiert sind. Und es gibt ja auch wirkliche Vorbilder. Nehmen wir Michael Groß, der während seiner Laufbahn studierte, anschließend promovierte und heute Lehrbeauftragter an einer Universität ist. Mark Warnecke ist ein erfolgreicher Unternehmer, Franziska van Almsick ebenso. Wir können noch Oliver Lampe nennen oder Antje Buschschulte. Ich glaube sogar, dass alle die Genannten und viele andere auch, keine solche Laufbahn nach der Karriere hingelegt hätten, wenn sie nicht so erfolgreiche Sportler gewesen wären. Wir haben jede Menge Know-how.
„Einer muss den anderen pushen“
Warum?
Schauen Sie, Schwimmen ist eine der trainingsintensivsten Sportarten. Es braucht viel Disziplin und auch Leidensfähigkeit. Ich spreche daher auch immer von der Mannschaft und nicht von den einzelnen Athleten. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft, einer muss den anderen pushen. Es braucht starke Trainingspartner, um erfolgreich zu sein.
Und welche Rolle spielen die Trainer?
Ich habe neulich ein sehr interessantes Interview mit Jan Frodeno gelesen. Der hat sich immer gesagt: „Ich will diese Medaille.“ Und genau das erwarte ich von meinen Athleten. Es bringt nichts, wenn ich sage: „Du musst diese Medaille holen.“ Ein Sportler muss seine Ziele auch ein Stück weit selbst definieren.
Kommen wir zu den Inhalten: Wie zufrieden sind Sie mit den vorherrschenden Strukturen? Was muss besser werden?
Wir haben eine gute Infrastruktur, Sport ist ein akzeptierter Bestandteil der Gesellschaft. Wir versuchen gewisse Dinge in der Ausbildung zu modifizieren. Wir denken dabei in zeitlichen Schritten. Wo stehen wir 2020? Wo 2024? Wo 2028? Mittelfristig brauchen wir ein Liga-System, damit sich die Sportler messen können. Es braucht sicherlich auch mehr Wettkämpfe, vor allem im Juniorenbereich. Ich tausche mich da auch regelmäßig mit Spitzentrainern aus anderen Sportarten aus. Die sind da ein Stück weiter. Bei uns ist der Sprung von der Junioren-EM hin zu einer Aktiven-WM riesig. Vielleicht waren wir da in der Vergangenheit ein Stück zu ungeduldig, Talente brauchen manchmal auch Zeit.
Nun steht die WM vor der Tür, sie haben den Qualifikationsmodus verändert, er gilt als weniger hart als früher? Hat sich das bewährt?
Wir wollen den Blick nicht auf das richten, was war, sondern was ist. Die Frage, die wir zu beantworten haben, ist, ob unser Modus den Anspruch hat, dass die Athleten in der Weltspitze bestehen können. Im Endeffekt geht es darum, dass die Athleten eine Final-Perspektive bei den großen Wettkämpfen haben.
„Wir werden alle an Resultaten gemessen“
Nun fahren 29 Athleten nach Budapest: Sind sie mit der Mischung zufrieden? Oder ist das Team ein bisschen jung?
Ich habe ja bereits gesagt, dass der Team-Gedanke sehr wichtig ist. Wir sind ja eine längere Zeit auf engem Raum zusammen. Da braucht es auch wettkampferfahrene Athleten, die die jüngeren Athleten mitnehmen und führen. Der Leistungsgedanke steht stets im Vordergrund. Niemand fährt als Tourist zu einem internationalen Wettkampf. Die Athleten wollen sich beweisen und erfolgreich sein.
Nun lebt der Sport ja von Erfolgen, andererseits betreiben sie eine langfristige Planung. Erfolgsdruck und Geduld schließen sich aber irgendwo aus.
Natürlich, wir brauchen nicht drum herumzureden. Wir werden alle an Resultaten gemessen. Das ist ein Stück weit normal, bei Sportarten, die bei Großereignissen in den Vordergrund rücken. Bei den Olympischen Spielen steht jeden Tag der Medaillenspiegel groß in der Zeitung. Damit muss man sich als Sportler auseinandersetzen, Druck kann ja durchaus leistungsfördernd sein.
Hand aufs Herz, wer sind denn Ihre Kandidaten, die was reißen können?
Jeder Sportler hat natürlich ein individuelles hohes Ziel. Wenn er das erzielt, wird er und auch das Team erfolgreich sein. Ein Florian Wellbrock hat sich im Becken und im Freiwasser für die WM qualifiziert, als einer der Top-3-Athleten in der aktuellen Weltbestenliste. Dem muss niemand erklären, welchen Platz er anstreben soll. Grundsätzlich ist es natürlich so, dass wir immer auch realistisch sein müssen. Die Konkurrenz ist im Laufe der Jahre stets größer geworden, es gibt auch in Europa beispielsweise mit den Niederlanden richtig starke Schwimmnationen. Von den USA oder Australien ganz zu schweigen. Aber wir haben auch Schwimmer mit internationalen Erfolgen dabei wie Franziska Hentke, Philip Heintz oder eben auch Florian Wellbrock. Am Ende ist dann auch die Tagesform abhängig, aber die großen Wettbewerbe leben ja auch davon, dass es Überraschungen gibt. Ein großer Fußballer hat mal gesagt: „Schau’n mer mal.“
Marco Koch, einer der erfahrensten und bekanntesten deutschen Schwimmer, ist wieder dabei. Er hatte eine problematische Phase. Was ist von ihm zu erwarten?
Marco hat überall Medaillen gewonnen, der braucht niemandem mehr etwas zu beweisen außer sich selbst. Eine Karriere hat immer Höhen und Tiefen, er hatte natürlich ein paar Wettkämpfe, die für ihn nicht gut gelaufen sind. Jetzt hat er die Norm gepackt, und ich bin echt gespannt, was er raushaut. Ich glaube, dass er noch mal richtig heiß ist. Einer wie er, der solche Erfolge hatte, fährt nicht zur Weltmeisterschaft, um sich ein paar schöne Tage zu machen. Die könnte er anders verbringen.