Gut zwei Jahrzehnte lang währte der längste Wirtschaftsboom in der 70-jährigen Geschichte der Bundesrepublik. Dieser wird meist dem CDU-Politiker Ludwig Erhard als Verdienst angerechnet, auch wenn inzwischen für den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft ganz andere Ursachen benannt werden.
Vor allem unter dem Eindruck der Trümmerlandschaften, die der Zweite Weltkrieg in vielen deutschen Städten hinterlassen hatte, waren die meisten Experten davon ausgegangen, dass der Wiederaufbau bis zu einem halben Jahrhundert dauern würde. Dass alles viel schneller gehen würde, lag vor allem an der rasant wieder zu Kräften gekommenen Wirtschaft der jungen Bundesrepublik. Sie hatte einen hierzulande beispiellosen, rund zwei Jahrzehnte anhaltenden Boom mit hohen Wachstumsraten von bis zu 12,1 Prozent etwa 1955 geschafft. Gleichzeitig stiegen die Einkommen, und die Arbeitslosigkeit sank. Zwischen den frühen 1950er-Jahren und dem durch die erste Ölkrise 1973 eingeläuteten Ende des deutschen Wirtschaftswunders gab es nur eine Rezessions-Delle in den Jahren 1966 und 1967 – ausgerechnet unter der Kanzlerschaft von Ludwig Erhard, dem lange Zeit in der Öffentlichkeit viel bewunderten „Vater des Wirtschaftswunders". Erhard musste daraufhin seinen Hut nehmen.
Um die Ursachen und Hintergründe des Wirtschaftswunders, das sich zwischen 1949 und 1968 auch in einem fast völlig ausgeglichenen Bundeshaushalt manifestierte und das nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen europäischen Ländern wie Spanien, Frankreich, Italien oder Österreich in ähnlich starker Ausprägung stattgefunden hatte, rankten sich viele Mythen und Legenden. Beispielsweise die von den segensreichen Auswirkungen des Marshallplans. Erst in den vergangenen Jahren wurden einige dieser Mythen seitens der historischen Forschung infrage gestellt, wobei der renommierte Wissenschaftler Werner Abelshauser, inzwischen emeritierter Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld und Mitglied der unabhängigen Geschichtskommission des Bundeswirtschaftsministeriums, eine Vorreiterrolle spielt.
Forscher stellen Mythen mehr und mehr infrage
Der breiten Öffentlichkeit wurden die neuen Erkenntnisse der Historiker 2013 in der viel diskutierten ZDF-Dokumentation „Unser Wirtschaftswunder" vorgestellt. Darin räumt Grimme-Preisträger Christoph Weber weder dem Marshallplan, noch dem Fleiß der deutschen Bevölkerung, und auch nicht dem Lenker Erhard so wenig wie der sozialen Marktwirtschaft einen nennenswerten Anteil am Wirtschaftswunder ein, sondern präsentiert das Londoner Schuldenabkommen von 1953, bei dem Deutschland die Hälfte aller ausländischer Altschulden erlassen wurde, als ganz entscheidenden Schritt für den wirtschaftlichen Aufschwung.
Dem Marshallplan hatte übrigens schon Ludwig Erhard selbst im internen Kreis 1949 keinerlei positiven Effekte bescheinigt, er habe „nicht das Geringste" zum Aufschwung der Wirtschaft beigetragen. Kein Wunder, bestanden doch 70 Prozent der über das amerikanische Hilfsprogramm finanzierten Warenlieferungen nach Deutschland aus Tabak und Rohbaumwolle, wohingegen der Anteil an aufbaurelevanten Gütern nach Angaben von Prof. Abelshauser gerade mal bei zwei Prozent lag. „Deutschland konnte", so Abelshauser in einem Interview mit der „Wirtschaftswoche", „keinen einzigen Dollar aus diesem Hilfsprogramm frei und nach eigenen Wünschen investieren, obwohl Erhard sehr dafür gekämpft hatte."
Der wohl wesentlichste Grund für den unerwarteten wirtschaftlichen Nachkriegsboom war das Faktum, dass die Industrie mit ihren Anlagen sowie die Infrastruktur mit Schienennetz und Brücken durch das alliierte Bombardement kaum oder nur punktuell zerstört worden waren. Nachdem sich die USA spätestens 1947 dazu entschlossen hatten, Westeuropa mithilfe eines starken Westdeutschlands zu einem Bollwerk gegen den Kommunismus zu machen, wurden die industriellen Demontagen in Grenzen gehalten und die anfänglichen Produktionsbeschränkungen – vor allem für Eisen- und Stahlprodukte – aufgehoben.
Schon vor der Währungsreform und der Freigabe der Industriepreise im Jahr 1948, die den Schwarzmarkt austrocknen und die Regale in den Geschäften urplötzlich füllen sollten, hatte im Herbst 1947 ein erster Wirtschaftsaufschwung eingesetzt. Dieser beschleunigte sich in den ersten fünf Jahren der jungen Bundesrepublik mit einem durchschnittlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 8,8 Prozent weiter rasant. Da viele der modernen und noch relativ neuen Fabriken und Fertigungsanlagen aus der NS-Zeit ursprünglich auf Dual-Verwendung angelegt waren – also auf die prinzipielle Verwendbarkeit für zivile wie militärische Zwecke –, war für die deutsche Wirtschaft die Umstellung auf Alltagsgüter unproblematisch. Der Koreakrieg zwischen 1950 und 1953 spielte der deutschen Industrie zusätzlich in die Karten, weil eine Reihe von westlichen Staaten mit den USA an der Spitze ihre Rüstungsproduktion auf Kosten des zivilen Sektors ausbauten und daher bundesrepublikanische Unternehmen die Auslandsnachfragen nach Konsumgütern befriedigen konnten – mit dem Käfer als fraglos prominentestem Symbol und Aushängeschild des Wirtschaftswunders.
Industrieanlagen waren nur punktuell zerstört
Über die Hintertür Wirtschaft konnte die Bundesrepublik schnell wieder in den Kreis der geachteten Nationen zurückkehren, wobei die heimische Landwirtschaft im Zuge eines grundlegenden Strukturwandels zugunsten der Industrie ins Hintertreffen geriet. Schon Mitte der 50er-Jahre war die Bundesrepublik auf den dritten Rang unter den Welthandelsnationen aufgestiegen, 1960 erfolgte der Sprung auf Platz zwei hinter den USA. Die Bundesrepublik hatte damit gewissermaßen zu ihrer alten wirtschaftlichen Macht zurückgefunden, die ihren völkerrechtlichen Vorgänger bis 1914 an die Spitze der Weltwirtschaft geführt hatte.
Entsprechend wird das Wirtschaftswunder, an dem nicht zuletzt das Millionenheer der größtenteils hochqualifizierten Flüchtlinge und Heimatvertriebenen aus dem Osten sowie ab 1955 auch der Gastarbeiter einen wesentlichen Anteil hatte, heute häufig auch als Rekonstruktionswachstum bezeichnet, das einfach nur das nach Kriegsende vorhandene riesige Wachstumspotenzial nutzen konnte.
Ludwig Erhards Credo „Wohlstand für alle" schlug sich ab Mitte der 50er-Jahre in einem stetigen Anstieg der privaten Kaufkraft nieder. Das hatte dank gleichzeitig stagnierender Lebenshaltungskosten einen wahren Kaufrausch, die berühmte „Fresswelle" mit den typischen Wohlstandsbäuchen sowie die erste große Reisewelle der Bundesbürger zur Folge. Was die Rolle von Ludwig Erhard betrifft, der zwischen 1949 und 1963 an der Spitze des Wirtschaftsministeriums stand, so wird ihm vor allem der frühe Impuls zur Hinwendung der deutschen Exportwirtschaft Richtung der Schwellenländer schon Anfang der 50er-Jahre als größtes Verdienst angerechnet. „Die Rückkehr zur Weltmarktorientierung der deutschen Wirtschaft", sagt Prof. Abelshauser, „das ist Erhards wahres Erbe." Darüber hinaus habe er es „geschickt verstanden, sich den Wirtschaftsboom persönlich zuschreiben zu lassen." Was sich nicht zuletzt in eindeutigen Wahlsiegen der Union unter dem Leitbild der erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft niederschlug.