Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte den Kampf gegen die RAF 1977 als „schwerste Krise des Rechtsstaates seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland" bezeichnet. Die Mittel, mit denen der Staat auf die unerwartete Bedrohung reagierte, sind im Rückblick durchaus zweifelhaft.
Der linksextremistische Terror der Roten Armee Fraktion, RAF, die das Gewaltmonopol des Staates zu brechen versucht hatte, löste die schwerste Krise in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Vor allem im Herbst 1977 geriet der deutsche Rechtsstaat an den Rand des Ausnahmezustandes. Nie zuvor und nie danach sahen sich Staat und Regierung so massiv angegriffen, musste die wirtschaftliche und politische Elite derart um die eigene Existenz fürchten, sah sich die Gesellschaft als Ganzes derart herausgefordert. Dass die Dimension der Bedrohung durch in der Bevölkerung zunehmend völlig isolierter Gewalttäter ganz erheblich überschätzt wurde, wird erst im historischen Rückblick deutlich.
Vor allem die Medien mit der „Bild"-Zeitung an der Spitze schürten ein Klima der Hysterie, indem sie die RAF zum Staatsfeind Nummer eins deklarierten und vermeintliche Unterstützer aus der linken Szene als „Sympathisanten" stigmatisierten. Unter dem wachsenden Druck der CDU/CSU-Opposition wurde die sozialliberale Regierung zu teils nicht unproblematischen Sondergesetzesvorlagen gedrängt, die neue Straftatbestände schufen oder die Rechtsposition von Angeklagten schwächten. Beispielsweise wurde die Bildung einer terroristischen Vereinigung 1976 unter Strafe gestellt, und im Zuge der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer das Kontaktsperregesetz für inhaftierte RAF-Terroristen im September 1977 durch den Bundestag gepeitscht. Zusätzlich wurden die Fahndungskompetenzen des Polizeiapparats erheblich erweitert, die Sicherheitsdienste personell und technisch mit elektronischen Überwachungssystemen massiv aufgerüstet: Stichworte Rasterfahndung, Fahndungsplakate oder die Anti-Terror-Einheit Grenzschutzgruppe (GSG 9).
All diese zuletzt genannten staatlichen Maßnahmen waren allein dem Sachverhalt geschuldet, dass die Bundesrepublik auf die neuartigen Kampfmethoden der RAF kein bisschen vorbereitet war. Durch Morde, Sprengstoff-attentate, Geiselnahmen zur Freipressung von inhaftierten Gesinnungsgenossen, Politisierung der Strafprozesse oder Hungerstreiks in Haftanstalten zur Durchsetzung von Forderungen wollte die RAF eine möglichst harte Reaktion des Staates provozieren. Er sollte dazu gezwungen werden, gegen sein eigenes Recht zu verstoßen, um dadurch seine Legitimation zu verlieren. Aus Sicht der RAF sollte der demokratische Rechtsstaat, der wegen seiner hohen personellen Kontinuität zum NS-Regime und wegen seiner zumeist kritiklosen Gefolgschaft gegenüber den USA im Vietnamkrieg mit einem Glaubwürdigkeits-Defizit behaftet war, als faschistisch-autoritäres Gebilde demaskiert und entlarvt werden.
Dass nur ein verschwindend kleiner Teil der deutschen Bevölkerung dieser RAF-Argumentation zu folgen bereit war, und dass nach den ersten tödlichen Bombenanschlägen 1972 selbst im Umfeld der radikalen Linken die heimlichen Sympathiewerte zusammengebrochen waren, wurde in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit kaum registriert. Es standen zwar nicht „Sechs gegen 60 Millionen", wie es Heinrich Böll im Jahr seines Literaturnobelpreisgewinns 1972 in seinem berühmten und heftig diskutierten „Spiegel"-Essay behauptet hatte. Aber mehr als einige Tausend unbelehrbare Linksradikale dürften es nicht gewesen sein, die dem harten Kern von geschätzten 60 bis 80 Terroristen während der gesamten RAF-Zeit zwischen 1970 und 1998 wohlgesonnen gewesen waren.
Staat ließ sich nur einmal erpressen
Den drei Generationen der RAF sind 34 Morde zuzuschreiben, 27 Personen starben aus den eigenen Reihen. Den Mordopfern und ihren Angehörigen wurde in Forschung und Medien lange Zeit viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, von den prominenten Ausnahmen wie Hanns Martin Schleyer oder Generalbundesanwalt Siegfried Buback mal abgesehen. Alles drehte sich in der Regel um die RAF-Täter, von denen bis heute kaum jemand zur Aufklärung der Morde beigetragen hat und die sich seinerzeit dank geschickter Selbstinszenierung oder dank Verlautbarungen ihrer Anwälte Otto Schily, Hans-Christian Ströbele, Klaus Croissant oder Horst Mahler in Märtyrer zu verwandeln und dadurch Unterstützerpotenzial zu gewinnen suchten.
Als großen Erfolg konnte die RAF die heute etwas in Vergessenheit geratene Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz verbuchen. Denn in seinem Fall ließ sich der Staat 1975 erpressen, indem er für Lorenz’ Freilassung terroristische Straftäter auf freien Fuß gesetzt hatte. Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte dies wenig später als gravierenden Fehler eingeräumt. Im Entführungsfall Schleyer und bei der Entführung des Flugzeugs Landshut sollte sich das nicht wiederholen, auch wenn im Vorfeld nur wenige Optimisten an den perfekten GSG-9-Befreiungscoup von Mogadischu im Oktober 1977 geglaubt hatten. Dieser hatte den Suizid der RAF-Spitze mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in der JVA-Stammheim zur Folge. In Stammheim wurde auch der zentrale RAF-Mythos von der Isolationsfolter genährt, obwohl den Inhaftierten dort tatsächlich Vorzugsbehandlungen eingeräumt worden waren und sie mithilfe von herausgeschmuggelten Kassibern ihre Gesinnungsgenossen außerhalb der Gefängnismauern instruieren konnten. Der kollektive Suizid wurde von der RAF zu einem weiteren Mythos umgedeutet, nämlich dem des staatlich verordneten Mords. Das idealistisch-abstruse Ziel, als selbsternannte Avantgarde oder Stadtguerilleros mit Einsatz von Waffengewalt eine Veränderung von Staat und Gesellschaft herbeizuführen, hatte nach Verhaftung der ersten RAF-Generation, die ihre militärische Grundausbildung bei ausländischen Terrorgruppen wie der Fatah erhalten hatte, keine Rolle mehr gespielt. Die zweite RAF-Generation hatte nur noch die alleinige Aufgabe, ihre inhaftierten Genossen freizupressen. Anfang der 80er-Jahre, nachdem einige Terroristen in der DDR Unterschlupf gefunden hatten, änderte die RAF mit der dritten Generation ihre Strategie Richtung Internationalisierung des Terrorismus.
Laut einem unlängst in der „Frankfurter Rundschau" veröffentlichten Interview mit der RAF-Spezialistin Petra Terhoeven, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Göttingen, wurden bis heute „nur 500 Angeklagte wegen RAF-Mitgliedschaft verurteilt, 60 bis 80 davon waren zuvor im Untergrund. Es gab 26 lebenslängliche Haftstrafen." Vor diesem Hintergrund hält sie die tatsächliche Bedrohung der Bundesrepublik durch die RAF für „marginal", „insbesondere, wenn man sie", so Terhoeven, „mit der Gefahr vergleicht, die heute von rechtem oder islamistischem Terror ausgeht …Die islamistische Szene in Deutschland allein umfasst heute mehr Gefährder, als die RAF in allen drei Generationen zusammen an Mitgliedern hatte. Schon diese Zahlen belegen, wie sehr Staat und Gesellschaft überreagiert haben." Für Terhoeven ist der Deutsche Herbst daher „ein Lehrstück über die Gefahr, dass ein Gemeinwesen wie das unsere angesichts einer terroristischen Bedrohung sein liberales, rechtsstaatliches Herz verliert."