Die aktuelle Krise der Parteien ist keine grundsätzliche Krise der Demokratie in Deutschland. Aber es ist ein schmaler Grat zwischen den Herausforderungen von innen und außen.
Der Glanz der frühen Jahre ist verblasst. Vorbei die Sternstunden des Parlaments, das Schlagwort von den verlorenen Jahren macht Karriere in Deutschland. Man mochte die gescheiterte „Jamaika"-Koalitionsverhandlungen als historisch neue Erfahrung verbuchen. Die anschließende Neuauflage der Großen Koalition war schlicht eine große Quälerei.
Die großen Jahre der Bundesrepublik scheinen angesichts der aktuellen Tristesse in noch hellerem Glanz, die Bewältigung der Krisen und Herausforderungen, von denen es nicht wenige gab, als Ausweis, dass Deutschland seine Lektion in Sachen parlamentarischer Demokratie gelernt hat. Nostalgische Schwärmerei verbietet sich aber, selbst wenn derzeit das Parteiensystem müde zu erodieren und die politische Führung ziemlich ideenlos zu ermatten scheint.
Zwei Bemerkungen markieren den Weg der Veränderung: Helmut Schmidts Spruch von den Visionen, die einen Arztbesuch erfordern, und Angela Merkels alternativlose Politik.
Schmidts Visionen-Spruch kann im Nachhinein als Übergang von großen gesellschaftlichen und politischen Entwürfen zur pragmatischen Politik auf eine Sicht interpretiert werden, die in der Merkelschen Alternativlosigkeit einen Höhepunkt erreichte. Auf diesem Weg verschwand das Bewusstsein, auf welch dünnem Eis sich die demokratischen Übungen bewegten. Tempora mutantur, die Zeiten ändern sich. Früher war nicht alles besser, es war anders. Womit sich die Frage aufdrängt, ob die bisherigen Konstruktionen des politischen Betriebs noch geeignet sind, auf die heutigen Herausforderungen angemessene Antworten nicht nur finden, sondern auch durchsetzen zu können.
Alte Schemata haben ausgedient
Es ist nicht allzu fantasiereich, den jeweils Regierenden den Vorwurf der verlorenen Zeit, des Stillstands, zu machen, während sich die Herausforderungen rasant weiterentwickelt hätten. Dass sich dieser Eindruck aber immer unbehaglicher als mulmiges Grundgefühl breitzumachen scheint, hat Gründe. Alles zu spät, dann auch noch halbherzig, so das gängige Urteil über das, was „die Politik" zuwege bringt. Dabei ist Klimaschutz das derzeit prominenteste, aber beileibe nicht das einzige Politikfeld in der Kritik. Parallel entwickelt sich das widersprüchlich erscheinende Bild einer deutschen Wirtschaft, die als Exportweltmeister mit Beschäftigungsrekorden gleichzeitig Ungerechtigkeiten produziert und in den großen Zukunftsfeldern fast schon abgehängt erscheint. Milliardenstrafen für deutsche Banken und der Abgasskandal einer betrügerischen Automobilindustrie werfen die Frage auf: Wo würde Deutschland stehen, wenn all das Geld für Strafen oder die Entwicklung von Betrugssoftware samt Zeit und Energie in innovative Lösungen für die Zukunft geflossen wären? Und wo bleibt die Politik, die Rahmen setzt?
Der Blick in die Parteien offenbart einen sehr vergleichbaren Zustand. Die ehedem großen Volksparteien versuchen sich mit viel Kraftaufwand in einem Koordinatensystem zu retten, das ausgedient hat. Schemata wie links und rechts taugen längst nicht mehr zu Standortbestimmungen. Die einst so umkämpfte „Mitte der Gesellschaft" ist ein heterogenes Gebilde, in dem jeder für sich seinen Lebensentwürfen nachzuhängen versucht, so gut es eben geht.
Im Dilemma stützen sich Parteizentralen auf Berater und Umfragen. Politische Entscheidungen sind mehr an Statistiken als an Menschen und deren Bedürfnissen ausgerichtet. Inhaltlicher Führungsanspruch scheint verpönt. Die Entdeckung basisdemokratischer Elemente wirkt wie ein Ausdruck von Hilflosigkeit, die gewählten Repräsentanten bitten die „Basis", die sie zuvor ihrer Rolle als Frühwarnsystem weitgehend beraubt haben, jetzt um ihr Votum.
Selbst die Funktion, dass Parteien „in westlichen repräsentativen Demokratien eine herausragende Rolle spielen, da vor allem sie für die Rekrutierung von Personal für die Politik verantwortlich sind" (so definiert es die Online-Enzyklopädie Wikipedia), kann nicht mehr als gegeben unterstellt werden. Gegen den Vorsitzendenverschleiß der SPD wirkte die CDU lange recht stabil, bis zu den jüngsten Entwicklungen. Daran bereits eine existenzbedrohende Krise der Demokratie festzumachen, dürfte aber wohl zu viel übertriebene Untergangsstimmung sein. Die Frage, ob diese Form der parlamentarischen Parteien-Demokratie an ihre Grenzen gestoßen ist, stellt sich allerdings
schon – nicht nur akademisch.
Platons Idee und Rezos Video
Bei einem Zufalls-Gespräch vor ein paar Tagen fiel der Satz: „Ich bin dafür, dass nur die Besten ganz oben stehen." Gesagt von jemandem, den man gemeinhin zur gut situierten „Mitte der Gesellschaft" zählen darf. Der Name Platon sagte meinem Gesprächspartner nichts, fast entschuldigend sein Hinweis, kein Abitur zu haben. Platon schwebte eine „Philosophenherrschaft" vor, entweder Philosophen an die Macht oder Herrscher müssten Philosophen werden. Was inhaltlich hieße, sich um die entscheidenden, großen Fragen und Herausforderungen zu kümmern.
In Berliner Parteizentralen herrschen andere Sorgen. Es ist ein eigener Kosmos geworden, nach eigenen Spielregeln, an denen auch Hauptstadtmedien kräftig mitformulieren. Deren Schlagzeilen gelten ganz offensichtlich mehr als das, was Menschen im Wahlkreis bewegt. Die Idee repräsentativer Demokratie samt Auftrag der Parteien, an der Willensbildung mitzuwirken, stammt aus der vordigitalen Zeit, wie auch Parteien mit Spiegelstrich-Programmen aus einer Zeit kommen, in der die Erde zwar auch schon rund, die Welt aber noch kein globales Dorf war, in dem, vielleicht auch wegen zunehmenden Mangels an Kirchturmspitzen, Orientierung außerordentlich schwerfällt. Dass es Parteien dabei ähnlich geht wie den Menschen im Land, ist alleine noch nicht zum Vorwurf zu machen.
Wer Volksparteien nur über Prozentzahlen definiert, wird sich wohl mit ihrem absehbaren Ende beschäftigen müssen. Wirklich überraschen kann dies als gesellschaftliches Kollateralergebnis (neo-)liberaler Individualisierung nicht. Ob Parteien eine Wandlung zu „smart partys" (was weitaus mehr heißt, als angemessen auf Rezo- und andere Videos reagieren zu können) schaffen oder schaffen wollen, sei dahingestellt. Vor neuen Kommunikationsformen müssten sie zunächst klären, welchen Beitrag sie zu welchem Thema leisten wollen. Der Spagat zwischen soziologisch definierten Parteizielgruppen ist überholt. Mehrparteien-Koalitionen als Normalfall sind nicht per se des Teufels, vorausgesetzt, das Wort „Kompromiss" erfährt wieder einen positiven Bedeutungswandel, weil nicht schon am Tag der Verkündigung klar ist, dass sie revisionsbedürftig sind. Parteien, die sich nur aus durchschaubarem Kalkül bekämpfen, will und braucht kein Mensch angesichts der Umstände – was die jüngsten Wahlen bestätigen.
Erstaunlich stabil ist dagegen das konstant hohe Ansehen der altehrwürdigen obersten Verfassungsorgane: Bundespräsident, Bundesverfassungsgericht. Zumindest ein gutes Indiz, dass das verschwindende Vertrauen in die Tagespolitik nicht grundsätzlich an der demokratischen Grundordnung rüttelt.
Winston Churchill wird der berühmte Satz zugeschrieben: „Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen – ausgenommen alle anderen." Der Satz stammt aus Zeiten, in denen die Welt, und damit die Herausforderungen an Politik, noch einigermaßen übersichtlich sortiert war. Wie übrigens auch das Verständnis dafür, was Demokratie sei und wie man sie organisieren könne. Gewählt wird auch in „gelenkten Demokratien", die ebenso wie national-autoritative Tendenzen auf dem Vormarsch sind. Vor diesem Hintergrund ist die Frage spannend, ob und wie sich das Parteiensystem neu sortiert. Entscheidend aber ist, wie robust sich das von vielen auf der Welt bewunderte demokratische System Deutschlands im zunehmend harten Wettbewerb wirklich erweist.