Walter Scheel hätte wohl auch in der deutschen Wirtschaft Karriere machen können. Er entschied sich für die Politik, in der er mit spielerischer Leichtigkeit in höchste Staatsämter aufstieg, die sozialliberale Koalition einfädelte und die neue Ostpolitik erst möglich machte. Dieser Tage wäre er 100 Jahre alt geworden.
Dass er der Nachwelt vor allem als singender Bundespräsident („Hoch auf dem gelben Wagen") und als allen schönen Dingen des Lebens zugeneigte Frohnatur in Erinnerung geblieben ist, scheint im Nachhinein die Selbsterkenntnis Walter Scheels zu bestätigen, dass er immer unterschätzt worden sei. „Was vielleicht mein Vorteil war", wie er selbst sagte. Denn hinter der Fassade des stets charmanten Bonvivants konnte er perfekt den ebenso zielstrebigen wie risikobereiten Machtstrategen verbergen, weshalb sein FDP-Parteikollege Hanns-Dietrich Genscher die Persönlichkeit Scheels mal als eine Mischung aus „Heiterkeit und Härte" beschrieben hatte.
Wahrscheinlich konnte es nur solch einem Mann gelingen, die FDP aus der Umklammerung der Unionsparteien zu befreien, sie aus einer in weiten Teilen eher rechtsnationalen Honoratiorenpartei in eine liberale Bürgerrechtspartei zu verwandeln und diese gegen heftigste innerparteiliche Widerstände in die sozialliberale Koalition zu führen. Dies machte letztlich erst die für die spätere deutsche Wiedervereinigung eminent wichtige Phase der von Willy Brandt und Egon Bahr konzipierten neuen Ost- und Entspannungspolitik möglich. In deren Rahmen eingebettet sah Scheel selbst denn auch den Moskauer Vertrag im August 1970 als seine größte politische Lebensleistung. Als Außenminister war es ihm gelungen, in einem Begleitbrief den Anspruch der Deutschen auf Wiedervereinigung zu bewahren, obwohl im Vertragstext selbst die Unverletzbarkeit der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR festgeschrieben war.
Fast vergessen ist zudem, dass Walter Scheel mal Bundeskanzler und Bundespräsident in einer Person war, was durch Artikel 55 des Grundgesetzes eigentlich verboten war. Aber diese Episode währte nur einen Tag, denn nach der Wahl von Helmut Schmidt zum Bundeskanzler am 16. Mai 1974 konnte der am Tag zuvor frisch zum Bundespräsidenten gekürte Walter Scheel die Leitung der Regierungsgeschäfte abgeben, die er kommissarisch nach dem Rücktritt Willy Brandts infolge der Guillaume-Affäre geführt hatte.
Europa war ihm eine Herzensangelegenheit
Walter Scheel wurde am 8. Juli 1919 als Sohn eines einfachen Stellmachers im Bergischen Land, genauer gesagt in Höhscheid, das heute zur Stadt Solingen gehört, geboren. Nachdem er das Abitur am Solinger Reform-Realgymnasium gemacht und anschließend eine Lehre an der örtlichen Volksbank absolviert hatte, wollte er eigentlich ein Wirtschaftsstudium aufnehmen. Doch schon wenige Tage nach Kriegsbeginn wurde er zur Luftwaffe eingezogen und geriet gegen Kriegsende im Rang eines Oberleutnants für kurze Zeit in britische Kriegsgefangenschaft.
Die Heirat mit seiner Jugendliebe Eva Charlotte Kronenberg 1942 sollte sich auch beruflich als Glücksfall für Scheel erweisen. Gleich nach der Rückkehr in die Heimat stieg er als Prokurist und Geschäftsführer in die mittelständische Stahlwarenfabrik seines Schwiegervaters ein und machte sich in entsprechenden industriellen Interessensverbänden einen Namen. Schon 1946 trat er in die FDP ein und wurde zwei Jahre später in den Solinger Stadtrat gewählt. 1950 gewann er in Remscheid das Direktmandat für den nordrhein-westfälischen Landtag, wo er fortan als wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Fraktion fungierte.
Das Jahr 1953 brachte ihm mit dem Wechsel nach Düsseldorf einen Karrieresprung. Zum einen wurde er erstmals in den Bundestag gewählt, wo er seinen Sitz bis 1974 behaupten sollte, zum anderen gelangte er durch Gründung eines Markt- und Meinungsforschungsunternehmens und zwischen 1958 und 1961 als Mitinhaber einer Finanzfirma zu privatem Wohlstand. 1956 wurde er Mitglied des FDP-Bundesvorstandes und war in Düsseldorf einer der führenden Köpfe der „Jungtürken", die dort erfolgreich den Sturz der CDU-FDP-Regierung unter Leitung von Karl Arnold betrieben und damit die Weichen für das bundesweit erste SPD-FDP-Bündnis auf Landesebene gestellt hatten.
Eine Herzensangelegenheit war ihm auch das Zusammenwachsen Europas, weshalb er 1955 Mitglied der Vorläuferversammlung des Europäischen Parlaments wurde, dem er von 1958 bis 1961 als Vorsitzender des Ausschusses für Entwicklungshilfe angehörte. Auf Scheels Drängen hin wurde 1961 das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gegründet, in dem die bis dahin auf verschiedene Behörden verteilten Zuständigkeiten für die Entwicklungshilfe gebündelt wurden. Scheel wurde die Leitung des Ministeriums übertragen, den Posten behielt er auch bis zum Ende des Kabinetts Erhard, bei dessen Sturz auch die von der CDU geplante Erhöhung der Sektsteuer eine gewisse Rolle spielte – ein skurriles Aperçu angesichts der bekannten Vorliebe Walter Scheels für hochwertigen Schaumwein, wobei er allerdings dem Champagner stets den Vorzug gab.
Scheel verlor zwei Ehefrauen an Krebs
1966 musste Scheel den Krebstod seiner Frau Eva, mit der er Sohn Arnold hatte, verkraften. Drei Jahre später heiratete er die Ärztin Mildred Wirtz, deren viel bewundertes Engagement als Gründerin der Deutschen Krebshilfe später die Beliebtheit ihres Gatten noch erheblich steigerte. Sie brachte Tochter Cornelia mit in die Ehe, aus der die gemeinsame Tochter Andrea-Gwendoline hervorgehen sollte. Zusätzlich adoptierte das Paar, das bis zu Mildreds Tod 1985 zusammenblieb, den aus Bolivien stammenden Sohn Simon Martin.
Die Jahre auf der ungewohnten Oppositionsbank während der ersten großen Koalition zwischen 1966 und 1969 nutzte die FDP zu einer grundlegenden programmatischen Neuausrichtung. Allerdings konnte Scheel die wesentlichen Weichenstellungen erst nach Ablösung des nationalliberalen Erich Mende als FDP-Bundesvorsitzenden ab 1968 in die Wege leiten. Scheel zählte keineswegs zum linksliberalen Flügel seiner Partei, die Ausbildung eines sozialliberalen Profils der FDP, das sich im Oktober 1971 im als „Freiburger Thesen" bekannt gewordenen Grundsatzprogramm niederschlagen sollte, dürfte zu einem nicht geringen Teil auch aus reinem Machtkalkül entsprungen sein. Für Scheel war klar, dass die FDP sich aus der Abhängigkeit der CDU befreien musste, dass sie auch ein Ohr für die Wünsche der jungen Generation und der Studentenbewegung haben und dass sie bezüglich der Überwindung der Teilung Europas neue politische Wege einschlagen sollte. Als Partner kam für ihn dafür eigentlich nur die SPD infrage.
Ein deutlicher Fingerzeig war die Wahl des SPD-Kandidaten Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten im März 1969. Scheel war es gelungen, genügend FDP-Mitglieder in der Bundesversammlung zu einer entsprechenden Stimmabgabe zu bewegen. Obwohl die FDP eine klare Koalitionsaussage im folgenden Bundestagswahlkampf vermied, ließen die Prognosen ein Desaster befürchten. Zumal Scheel auch noch in einem Alleingang seine persönliche Präferenz für eine sozialliberale Koalition öffentlich bekundete. Die nationalliberalen Stammwähler versagten Scheel die Gefolgschaft, die Partei stürzte bei der Bundestagswahl im September 1969 von 9,5 auf 5,8 Prozent ab. Und doch verabredete Scheel noch in der Wahlnacht mit Willy Brandt eine SPD-FDP-Regierung auf schmalster parlamentarischer Mehrheit. Diese musste mit Scheel als Außenminister und Vizekanzler im Zusammenhang mit den Ostverträgen wegen Überläufern zur Opposition etliche parlamentarische Zerreißproben überstehen – bis zum Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im April 1972.
Ab 2012 litt er an fortschreitender Demenz
Als der Kanzler in der Guillaume-Affäre immer mehr unter Druck geriet, fädelte Scheel geschickt seine Bundespräsidenten-Kandidatur ein. Seiner Absicht, die Kompetenzen des höchsten Staatsamtes in Sachen politischer Einflussnahme auszuweiten, wurde ein Riegel vorgeschoben. Scheel tröstete sich dafür mit Glamour und Prunk in der Amtsführung. Das machte ihn in der deutschen Öffentlichkeit sehr populär und brachte ihm den vom Historiker Arnulf Baring geprägten Ehrentitel „Mr. Bundesrepublik" ein. Scheel war erst 60 Jahre alt, als er 1979 von der politischen Bühne abtrat. Bis zu seiner Einweisung in eine Pflegeklinik in Bad Krozingen wegen fortschreitender Demenzerkrankung im Jahr 2012 pflegte er das Leben neben zahllosen Ehrenämtern in Wirtschaft und Kultur an der Seite seiner dritten, 1988 angetrauten Ehefrau Barbara Wiese in vollen Zügen zu genießen – als Partygänger, Jäger, Golfer oder Liebhaber exquisiter Zigarren und feinster Gaumenfreuden. Walter Scheel starb am 24. August 2016 in Bad Krozingen. Beim Berliner Staatsakt zählten legendäre Spitzenköche wie Eckart Witzigmann, Paul Bocuse oder Marc Haeberlin zu den Trauergästen.