Warum Einlassungen von Zeitzeugen mit Vorsicht zu genießen sind
In den 60er-Jahren kam unser Gerichtsreporter in die Redaktion und berichtete unbekümmert von den Männern, die im Moabiter Kriminalgericht herumschlichen und respektlos fragten: „Brauchen Sie ’nen Zeugen? 20 D-Mark." Zeugen entscheiden meist ein Verfahren und bestimmen so, was Wahrheit ist. Wer je gegen einen Polizisten aufbegehrte, der einen Verkehrsverstoß registriert hatte, weiß davon ein Lied zu singen. Polizisten haben immer einen Zeugen. Ein Pluspunkt, wenn es um die Wahrheitsfindung geht.
Heutzutage hat der Zeitzeuge eine ähnlich privilegierte Stellung, zu der ihm vor allem das Fernsehen verholfen hat. Denn spätestens seit Guido Knopp ist das Fernsehen für den Geschichtsunterricht und – wie die Historiker sagen – für die „Vergangenheitsvergegenwärtigung" die Schule der Nation. Kein Sachbuch, keine historische Ausstellung kann da mithalten – sie profitieren allenfalls vom Fernsehen. Und nicht nur Historiker machen sich über diese Entwicklung ernsthafte Gedanken.
Freilich ist unbestritten, dass das Selbstbild älterer Zeitzeugen die Erinnerung so stark beeinflussen kann, dass selbst objektiv Falsches glaubhaft vermittelt wird. Dafür gibt es in diesem Gedenkjahr – 70 Jahre nach 1949 – zahlreiche Beispiele. Ob die Berlinerin, die während der Luftbrücke die rührende Geschichte des Schokoladen-Fliegers Gail Halverson mit ihrer persönlichen Story eines Direktkontakts unterstützte, zur Public-Affairs-Truppe der US-Garnison gehörte und die Heldenlegende dadurch wirkungsvoll verstärkte, sei dahingestellt.
Kurioser ist die zum 70. Jahrestag der Aufhebung der Berlin-Blockade im ARD-Fernsehen verbreitete Erzählung einer heute 90-Jährigen, die behauptete, während des Blockade-Winters 1948/49 seien in Westberlin Menschen in ihren Wohnungen erfroren. Offenkundig eine dem Alter der Zeitzeugin geschuldete Verwechslung. Kältetote gab es in Berlin im ersten harten Nachkriegswinter 1945/46. Im Blockade-Winter war es das Verdienst der Luftbrücke, dass ein bescheidenes Kontingent an Brennmaterialien das Überleben sicherte.
Ein anderes, beharrlich weitergetragenes Klischee ist die Mär vom eingemauerten Westberlin als „künstliches Gebilde unter einer Käseglocke" – ohne lebendigen Alltag, ohne gesellschaftlichen Fortschritt, subventioniert und ausgedörrt. Es waren die Subventionen und die Aufmerksamkeit der westlichen Welt, die Westberlin zu einer Kultur- und Politikmetropole machten. Hier spielte die Musik. In Westberlin entstanden die Ideen, die Weichen für die Zukunft stellten. Vom Jazz, den Filmfestspielen und den Festwochen bis hin zum demokratischen Umbau der Universitäten, der Frauenbewegung und den Konzepten für eine europäische Friedensordnung. Ein aktuelles Beispiel für die Fragwürdigkeit von Zeitzeugen, wenn es um Westberlin geht, ist die für das Jahr 1975 von einer Zeitzeugin in der ARD aufgestellte Behauptung. „Es gab keine Industrie." Westberlin war in den 70er-Jahren die größte Industriestadt zwischen Paris und Wladiwostok.
Die Briten haben das vom Dramatiker Harold Pinter geprägte Sprichwort „Past is a foreign country – Die Vergangenheit ist ein fremdes Land". Da ist Vorsicht angesagt, denn du kannst leicht aufs Glatteis geraten. Deutsche Historiker sehen inzwischen äußerst kritisch – bis hin zu der vernichtenden Feststellung, die beim alljährlichen Historiker-Tag zum Motto wurde: „Zeitzeugen-Fernsehen ist wie Pornografie". Beim gleichen Kongress bewahrte Sönke Neitzel – Universität Potsdam und Berater bei den „History"-Sendungen – die Fernseh-Zeitzeugen vor dem totalen Verriss. Er belegte anhand tausendfacher Beispiele, dass die Zeitzeugen in ihren Erzählungen lediglich Erkenntnisse aus nachträglichem Wissenserwerb vorgetragen hatten. Zugleich aber kam er auf den zentralen Punkt der Debatte mit der Frage: „Wer produziert die Geschichtsbilder der Gegenwart?". Es wäre verantwortungslos von den Historikern, wenn sie es den Zeitzeugen im Fernsehen überließen.