Ist er der nächste Premier Großbritanniens? Bislang stehen die Chance nicht schlecht. Boris Johnson galt schon immer als Paradies-vogel und vorlauter Quertreiber. Ein Porträt.
Sie sind ein egozentrischer, aufgeblasener Idiot – verschwinden Sie aus der Öffentlichkeit!" Mit diesen Worten entrüstete sich bei einer Live-Sendung der BBC vor einigen Jahren eine Anruferin über Boris Johnson. Der war damals konservativer Bürgermeister von London und hatte bereits den Ruf als Paradiesvogel der britischen Politik weg.
Inzwischen ist Boris Johnson auf dem Weg, Premierminister des Vereinigten Königreiches zu werden. Für viele Beobachter ist der 55-Jährige ein kauziger Sonderling. Kein anderer Politiker in London fällt so sehr auf, kein anderer spaltet so stark. Die einen hassen ihn bis aufs Blut, die anderen jubeln ihm frenetisch zu.
Wer ist dieser Mann mit den Wuschelhaaren, dessen Krawatte meistens schief hängt und der sich mit bärenhaften Schritten leicht nach vorne gebeugt vorwärts bewegt – immer einen vorlauten Spruch auf den Lippen?
Boris Johnsons Vorfahren sind illuster. Urgroßvater Ali Kemâl war ein weitläufiger Verwandter der Queen. Bekannt wurde er als letzter Innenminister des untergegangenen Osmanischen Reiches. Als Gegner der türkischen Befreiungsbewegung ordnete Kemâl die Verhaftung des späteren Staatsgründers Kemal Atatürk an, den er „Penner" nannte – und wurde dafür zu Tode gelyncht. Die überlebende Familie Kemâl floh nach London, wo der Sohn des Ermordeten den englischen Namen „Wilfred Johnson" annahm – hier beginnt die englische Linie der Johnsons.
Boris Johnsons Vater Stanley, ein Spezialist für Umweltfragen, heiratete die auch im Alter noch hochtalentierte Malerin und Englisch-Dozentin Charlotte Maria Offlow Johnson Wahl. Die Mutter des heutigen Premiers war damals die erste verheiratete Engländerin mit akademischem Grad. Charlotte siedelte nach New York über, als ihr Mann einen Job am Sitz der Weltbank erhielt. Dort kam Boris 1964 als Erstes von vier Kindern zur Welt, weshalb er bis zum freiwilligen Verzicht vor wenigen Jahren auch die US-Staatsbürgerschaft besaß.
Er spaltet die konservative Partei
Als Boris ein kleines Kind war, erkrankte seine Mutter an schweren Zwangsstörungen, vermutlich einer Folge von Überlastung. Innerhalb von zehn Jahren hatte Charlotte geheiratet, ihren Uni-Abschluss gemacht, vier energische Kinder geboren und war 17 Mal umgezogen. Es folgten Therapien und die Scheidung.
Zurück in London publizierte Johnsons ruheloser Vater mehrere Fachbücher und Romane und ging in die Politik. In der ersten Wahlperiode des Europäischen Parlaments (1979–1983) war Johnson senior konservativer EU-Abgeordneter im Ausschuss für Umweltfragen. Politik war dem künftigen Hausherrn von 10 Downing Street also bereits mit der Muttermilch in die Wiege gelegt.
Dass Boris Johnson ein Mann der scharfen Zunge ist, stellte sich schon zu seiner Studienzeit heraus, als er 1986 an der ehrwürdigen Universität von Oxford zum Präsidenten des renommierten Debattierzirkels Oxford Union aufstieg. Später wurde er Journalist bei der renommierten Zeitung „The Times", wurde jedoch wegen Verfälschung eines Zitates ausgerechnet seines Patenonkels, des Historikers Colin Lucas, entlassen. Weiter ging es als Brüssel-Korrespondent des konservativen Blattes „The Daily Telegraph" mit EU-skeptischen Kommentaren, was er 1994 bis 2005 als Herausgeber von „The Spectator" fortsetzte, dem bissigen und ältesten Magazin englischer Sprache.
In die aktive Politik trat Boris Johnson 2001 mit seiner Wahl zum Unterhausabgeordneten von Henley ein, einem traditionsbewussten Wahlkreis nahe London. Dort gibt sich jedes Jahr zur Henley Royal Regatta die britische Oberschicht ein Stelldichein. Weitere politische Karrierestationen waren Rollen als Schattenminister der konservativen Opposition. Dabei vertrat er zum Beispiel beim Thema gleichgeschlechtliche Ehe sozialliberale Positionen.
Boris Johnsons’ Durchbruch war die Wahl 2008 zum Bürgermeister der Megametropole London. 2012 war er der Gastgeber für die Olympischen Sommerspiele. Inhaltlich trat der Hüter eines Jahresetats von rund drei Milliarden Euro unter anderem durch ein Alkoholverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie die Einführung eines öffentlichen Fahrradleihsystems und der Förderung des Londoner Finanzsektors hervor.
Altertümliche Doppeldeckerbusse ließ Bürgermeister Johnson durch moderne Hybridfahrzeuge vom Typ New Routemaster ersetzen – sie heißen bis heute im Volksmund: „Borismaster". Aus der Zeit stammt Johnsons’ Spezialhobby: „Also, ich nehme mir so eine Kiste, in der mal zwei Weinflaschen drin waren und dann mache ich einen Bus daraus," verriet er kürzlich im Radio. „Ich male auch fröhliche Passagiere drauf."
Das Engagement Johnsons’ für den Austritt aus der Europäischen Union begann 2015 nach der Wahl zum Unterhausabgeordneten von Uxbridge and South Ruislip – er gewann den Wahlkreis mit nur einem Prozent Vorsprung gegen den Kandidaten der sozialistischen Labour Party. Als Sprecher der Anti-EU-Kampagne von 2016 setzte er erfolgreich die Brexit-Volksabstimmung durch und galt seitdem als potenzieller Regierungschef. Eines von Johnsons Hauptargumenten war, die EU ziele auf einen Superstaat: „Napoleon, Hitler, verschiedene Leute haben das versucht, und es endete immer tragisch."
Ruheloser Glücksspieler
Das Amt an der Spitze des Vereinigten Königreiches ergatterte aber nicht Johnson, sondern die damalige Innenministerin Theresa May, was ihn wurmte. May versuchte den vorlauten Dauerkonkurrenten einzubinden – als Außenminister und Chef des legendären britischen Geheimdiensts MI6. Doch als Chefdiplomat Londons fiel Johnson entgegen aller diplomatischen Gepflogenheiten immer wieder durch verbale Ausrutscher auf.
Beim Antrittsbesuch in der deutschen Hauptstadt Berlin erklärte Johnson fröhlich: „Ich bin kein Berliner." Ausgerechnet in einem Sikh-Tempel warb er für mehr Whisky-Importe nach Indien, obwohl die Religion jeden Alkohol verbietet. Und beim Joggen im New Yorker Central Park zeigte sich der Außenminister Ihrer Majestät in einem mutigen Outfit, das einer Unterhose glich – die Weltpresse verbreitete die Fotos genüsslich rund um den Globus.
2018 zog Johnson selbst die Notbremse und verabschiedete sich aus dem Kabinett. Damit verschaffte er sich mehr gemeinsame Zeit mit seiner Freundin Carrie Symonds. Die 31-jährige taffe PR-Frau wird in den Medien bereits als Großbritanniens „First Girlfriend" tituliert. Die Beziehung scheint gefühlsstark zu sein, sah doch erst vor wenigen Tagen die Polizei nach dem Rechten, als besorgte Anwohner zu nachtschlafender Zeit lautstarkes Schimpfen und zersplitternde Teller aus der Wohnung hörten. Sie nennt ihn übrigens „BoJo".
Die wahre Absicht hinter „BoJos" Rücktritt war jedoch, ein Aufmarschgebiet für den Sprung ganz nach oben zu schaffen. Nun wird sich herausstellen, ob der Mann der großen Worte – er will eine gigantische Ärmelkanalbrücke zwischen Großbritannien und Frankreich bauen – im Praxistest liefern kann. Wird er sich tatsächlich weigern, wie angekündigt, die 44-Milliarden-Euro-Schlussrechnung der EU zu begleichen?
Nicht jeder unter den Untertanen von Elizabeth II. jubelt über die Vorstellung, Johnson als neuen Premier, der den Brexit – koste es, was es wolle – auch ohne Abkommen mit der EU zum 31. Oktober 2019 durchziehen möchte. „No Deal ist keine Option!", warnt Mike Hawes vom Verband der britischen Autoindustrie. Die Anschaffung eines Autos für die Verbraucher werde sich um rund 1.700 Euro verteuern.
Einen Boris Johnson dürfte das nicht tangieren. Denn der hat eine Mission. „Wir können das großartigste Land der Welt werden," so Johnson in Trump-Sprechmanier in einem programmatischen Zeitungsartikel. Dass er auf dem Zenit seiner Laufbahn grandios scheitern könnte, das plant Johnson höchstens im stillen Kämmerlein ein. Bei Neuwahlen sähen Johnsons Konservative laut Umfragen ausgesprochen alt aus. Aber der Mann aus dem Land der Wettbüros ist ein ruheloser politischer Glücksspieler. Er setzt erst mal alles auf eine Karte.