Die Grünen sind auf einem Höhenflug, der kaum zu stoppen scheint. Die Mitgliederzahlen steigen rapide. Wirklich vorbereitet darauf war die Partei nicht. Markus Tressel, Bundestagsabgeordneter und Grünen-Landeschef im Saarland, warnt seine Partei vor unnötigen Personaldebatten.
Herr Tressel, wie heißt der erste Kanzlerkandidat der Grünen?
Ich glaube, dass wir gut beraten sind, nicht die Fehler der beiden ehemaligen Volksparteien zu machen, Politik nur über Personal zu diskutieren. Unser Ziel ist es, und damit sind wir bisher gut gefahren, die Inhalte in den Vordergrund zu stellen. Das Personal folgt den Inhalten. Wir haben gutes Personal auf Bundesebene und ich glaube, dass die infrage kommenden Personen alle dieses Amt auch ausfüllen könnten. Trotzdem sind wir gut beraten, keine Personaldebatte zu führen. Die Lehre der letzten Wochen ist: Die Leute wollen mit uns über Inhalte diskutieren, darüber, wie die Zukunft des Landes aussieht. Ich glaube, dass wir ein Personalportfolio haben, das das auch leisten kann, aber das steht für uns nicht im Vordergrund.
Die Grünen sind stabil bei „20 plus", Wahlergebnisse bestätigen Umfragetrends. Wie verändert das die Partei?
Zunächst einmal haben wir einen großen Zulauf an Mitgliedern. Das ist für uns insofern eine neue Erfahrung, viele unterschiedliche Menschen in einer Partei zu integrieren, die vorher relativ homogen war. Das erweitert auch unser Spektrum. Neue Menschen bringen neue Ideen mit, und diese Menschen sind vielfach nicht parteisozialisiert. Das ist an vielen Stellen erfrischend, stellt uns aber auch vor neue Herausforderungen. Ich glaube, dass wir bisher einen ganz guten Weg gefunden haben: Wir reden viel, wir binden ein, diskutieren über die Inhalte, die die Leute bewogen haben, zu uns zu kommen. Und es verändert die Partei insofern, dass wir auch neue Strukturen brauchen. Die Anforderungen steigen also. Und natürlich steigen auch die Erwartungen, nicht nur bei den Mitgliedern, sondern insgesamt. Die Kunst ist also, sich auf der einen Seite inhaltlich treu zu bleiben, auf der anderen Seite diese strukturellen Herausforderungen zu bewältigen.
Es gibt die provokative These, dass die Grünen derzeit deshalb so erfolgreich sind, weil sie alles richtig machen, nämlich möglichst nichts. Ruhe in der Partei, kein Streit untereinander, keine Forderungen, die heftige Widerstände erregen wie seinerzeit der berühmte Veggie-Day. Ist an der These was dran?
Richtig ist an der These, dass wir uns nicht streiten. Und das ist ein hoher Wert, dass wir uns nicht untereinander verkesseln. Das liegt auch daran, dass wir eine Führung haben, die das auch nach innen ausstrahlt. Wir haben ein inhaltliches Ziel, und daran arbeiten wir. Wer die Grünen kennt, weiß, dass wir nie den bequemen Weg gewählt haben, weil wir nie den Leuten nach dem Mund geredet haben. Wir sehen heute, dass wir auch mit unbequemen Wahrheiten solche Umfragewerte erreichen. Ich glaube, man darf einen Fehler nicht machen, nämlich mit zu groß aufgeblähter Hose durch die Gegend laufen und meinen, wir könnten jetzt alles umsetzen. Wir müssen im Blick behalten, was umsetzbar ist und wie wir die Leute mitnehmen können. Die Menschen trauen uns Lösungskompetenz zu. Und die Menschen sind zunehmend bereit, auch Veränderungen mitzutragen, wenn wir beim Klimaschutz und beim Artenschutz vorankommen wollen. Das ist die Veränderung zu früher.
Was hat sich bei den Grünen verändert, dass sie plötzlich so attraktiv sind?
Ich glaube, die Grünen haben sich gar nicht so stark verändert, eher hat sich das Bewusstsein dafür verändert, dass es auch einmal unbequem werden kann, wenn man die großen Fragen adressieren will. Es geht um nichts weniger als die Frage: Werden unsere Kinder und unsere Enkelkinder noch ein einigermaßen lebenswertes Leben führen können auf diesem Planeten. Die Menschen sehen jetzt die Notwendigkeiten, dafür etwas zu verändern. Wir stellen schon unbequeme Dinge zur Diskussion, Beispiel Verbrennungsmotor – und die Umfragewerte sind parallel dazu hochgegangen. Vor fünf Jahren wäre das vielleicht noch der Chancentod gewesen, heute debattiert die Gesellschaft viel offener darüber, was wir tun müssen und können. Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt, und die zwei alten Volksparteien sind irgendwie stehen geblieben, haben nicht gemerkt, dass die Debatte über sie hinweggezogen ist. Die Sprachlosigkeit dort ist das, was die Leute annervt. Das bringt die Leute zu uns. Die sagen: ihr diskutiert, habt auch schon mal unterschiedliche Positionen in der Partei, aber ihr entwickelt wenigstens mal Zukunftsvisionen. Und das ist, glaube ich, das Erfolgsrezept. Die ehemals großen Volksparteien sind stehen geblieben, die Leute sind weitergezogen, und die Diskussionen finden woanders statt.