Die Flüchtlingsrettung der Kapitänin Carola Rackete polarisiert Europa
Das Drama um das Flüchtlingsschiff „Sea-Watch 3" lässt keinen kalt. Die deutsche Kapitänin Carola Rackete schipperte mehr als zwei Wochen über das Mittelmeer und erzwang sich schließlich die Zufahrt in den Hafen der italienischen Insel Lampedusa. Dort wurde sie festgenommen und nach Sizilien in Untersuchungshaft gebracht. Italiens rechtspopulistischer Innenminister Matteo Salvini hatte alle Häfen seines Landes für Migranten sperren lassen.
Für die einen ist die 31-Jährige eine Heldin, ein weiblicher Robin Hood der Meere, der geschundene Migranten in Sicherheit bringt. Salvini wird im gleichen Atemzug als eiskalter Politiker verdammt, der mit seiner Abschottungspolitik auf die Stimmen der Wutbürger schielt. Die anderen halten Rackete für eine Kriminelle, die sich über italienische Vorschriften hinwegsetzt. Salvinis Verhalten sei daher legitim.
Die Etiketten der Heilsbringerin und der Gesetzesbrecherin helfen jedoch nicht weiter. Unbestritten ist: Wenn sich Menschen in Seenot befinden, müssen sie gerettet werden. Das ergibt sich aus der Tradition der Seefahrt und dem ungeschriebenen Völkergewohnheitsrecht. Vor diesem Hintergrund ist Rackete mit der Aufnahme der Flüchtlinge moralisch im Recht. Dass sie die Hafeneinfahrt gegen Widerstände durchboxte, brachte sie allerdings in Konflikt mit der italienischen Justiz.
Doch es geht nicht nur um diesen individuellen Fall. Die Frage stellt sich: Dürfen private Seenotretter angesichts großer Flüchtlingsbewegungen eingreifen? Nein, diese Steuerungsfunktion muss die Politik übernehmen. Weltweit sind mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Aus Afrika versuchen vor allem Jüngere, ihren Ländern zu entkommen. Korruption, Armut, politische und religiöse Verfolgung sowie düstere wirtschaftliche Perspektiven sind die Antreiber. Ein Netz von Schleusern verdient Milliarden Euro an dem Massen-Treck der Elenden.
Europa, der Nachbar-Kontinent Afrikas, hat dieses Problem bislang nicht in den Griff bekommen. Es gab hehre EU-Appelle zur Solidarität, aber keine Lösung für die Aufnahme und Verteilung von Migranten. Italien und Griechenland, die ab 2015 einen Ansturm an Gestrandeten zu stemmen hatten, wurden zu oft allein gelassen.
Aufrufe zur Bekämpfung der Fluchtursachen eignen sich für Sonntagsreden. Doch ein solches Projekt ist schwierig umzusetzen, dauert lang und kostet viel Geld. Mit simpler Entwicklungshilfe ist es nicht getan. Die insgesamt rund zwei Billionen Dollar, die in den vergangenen 60 Jahren nach Afrika geflossen sind, haben wenig bewirkt. Ein Großteil davon ist in den Taschen der Mächtigen versickert. Man sollte sich vor Illusionen hüten. Zwar kann die EU in Afrika zum Beispiel zukunftsträchtige Start-up-Unternehmen unterstützen. Diese intelligente Aufbauhilfe zur Selbsthilfe würde immerhin kleine Inseln wirtschaftlicher Prosperität schaffen. Aber Brüssel kann den Kontinent im Süden nicht retten.
Über dieser gigantischen Herausforderung hat sich die EU gespalten. Die osteuropäischen Länder riegeln ihre Grenzen für Flüchtlinge ab; die Regierungen fühlen sich durch die Wahlerfolge der sie tragenden Parteien bestätigt. Diese Positionen kann man kritisieren. Aber man muss sie respektieren, wenn die Mehrheit der Bevölkerung so denkt. Österreich und Italien fahren ebenfalls einen restriktiven Kurs. Deutschland gibt sich nach wie vor großzügig. Frankreich betont das Recht auf Asyl, will jedoch keine Migranten aus wirtschaftlichen Motiven aufnehmen. Es war Präsident Emmanuel Macron, der die Idee von Auffanglagern für Flüchtlinge in Nordafrika ins Spiel gebracht hatte. Dort sollte geprüft werden, wer weiter nach Norden darf.
Die europaweite Erregung über die Solo-Aktion der „Sea-Watch-3"-Kapitänin Carola Rackete spiegelt die Uneinigkeit der EU wider. Die Union muss sich nun überlegen, ob sie mit einer Koalition der Willigen eine Art Not-Programm erstellt, um Flüchtlinge in begrenzter Zahl aufzunehmen. Wohl wissend, dass die eigenen Gesellschaften nicht überfordert werden dürfen. Andernfalls wäre ein Aufschwung rechtspopulistischer Parteien zu befürchten. Einen Salvini-Effekt kann es auch anderswo geben. Die Aufgabe, die weltweite Migration anzupacken, ist für die EU jedenfalls zu groß. Auch die Vereinten Nationen sind hier gefordert.