Teigtaschen, Oktopus, ungekühlte Schweinehälften: In Hongkong können Urlauber die Esskultur der Einheimischen erlernen – wenn sie sich denn trauen.
Mittagszeit in Hongkong. In einer fensterlosen Halle spritzt ein Mann mit einem Wasserschlauch den Boden ab. Die Luft ist feucht und warm, es riecht nach Fisch und frittiertem Fett. Während Vögel am Boden nach Krümeln picken, steigt hinter einer Glasscheibe Essensdunst auf. Servietten gibt es hier nicht, auch keine Stühle. Stattdessen Plastikhocker und einen Röhrenfernseher, auf dem ein Pferderennen übertragen wird. Der Mann mit dem Wasserschlauch ist gleichzeitig der Koch: Als die Pferde ins Ziel einlaufen, holt er den frittierten Oktopus aus der Pfanne. Das soll ein Restaurant sein? Nicht ganz, denn die Rede ist von einem Dai Pai Dong, einer landestypischen Garküche, die es in Hongkong in nahezu jeder Ausführung gibt: von der provisorischen Bretterbude bis hin zur überdachten Markthalle. Die Verkaufsbuden gehen auf die britische Kolonialregierung zurück, die nach dem Zweiten Weltkrieg Verkaufslizenzen an die Angehörigen von Veteranen ausgab. So sollte ihnen ein finanzielles Auskommen gesichert werden.
Heute gehören die Dai Pai Dongs zu einer aussterbenden Art. Der Anblick von rohem Fleisch, das ungekühlt hinter Plastikplanen baumelt, wirkt auch auf Einheimische zunehmend befremdlich. Die Behörden in Hongkong würden die Open-Air-Buden aus hygienischen Gründen am liebsten komplett verbannen. Doch das bleibt nicht ohne Folgen: Weil die Vergabe von Verkaufslizenzen eingeschränkt wurde, geht die Zahl der traditionellen Garküchen stark zurück. Die Zeitung „South China Morning Post" hat ausgerechnet, dass von einst 50.000 aktuell gerade einmal 6.000 übrig sind. Tendenz fallend.
Wer die traditionelle Hongkonger Küche also probieren möchte, muss sich beeilen. Und trauen. Ein wenig Überwindung ist nämlich schon nötig, um einen solchen Verschlag zu betreten. Im Dai Pai Dong im Yau-Ma-Tei-Quartier tropft es von der Decke. Die Kellnerin wischt die Tische mit Toilettenpapier ab. Ein Gast raucht, obwohl hinter ihm ein großes Poster auf das lokale Rauchverbot hinweist. Nicht gerade einladend, könnte man meinen. Doch dann die Belohnung: eine wahre Geschmacksexplosion. Fisch, der so frisch ist, dass er fast noch zappelt. Knackiges Gemüse. Zutaten, die in keinem europäischen Kochbuch stehen. Da nimmt man die Rattenköder, die rings um die Halle ausgelegt sind, doch gerne in Kauf.
Nur noch 6.000 Garküchen
Für den Tourismus in Hongkong bieten solche Erlebnisse eine Chance. Zwar halten sich die meisten Urlauber in der Stadt auf, um die Zeit totzuschlagen, bis der nächste Flieger nach Australien oder Neuseeland abhebt. Doch zunehmend entwickelt sich die Sieben-Millionen-Metropole auch selbst zur Destination, zum Beispiel für kulinarische Experimente.
Damit Reisende nicht stundenlang umherirren müssen, um eine schmackhafte – und hygienisch einwandfreie – Garküche zu finden, können sie eine geführte „Foodie-Tour" buchen. So etwa in Sham Shui Po, einem Hongkonger Arbeiterviertel, in dem nur selten ein englisches Wort gesprochen wird, geschweige denn auf einer Speisekarte auftaucht. Im Straßengewirr haben sich sechs Urlauber um einen Marktstand versammelt und schauen halb fasziniert, halb angewidert in die Auslage. Dutzende Schweinefleischstücke baumeln dort ungekühlt an Haken. Auf dem Tisch liegen abgehackte Fischköpfe, deren Kiemen sich noch bewegen.
„Das ist ein Zeichen von Frische", erklärt Carrie Poon, 30, die die kulinarische Stadtführung leitet. „Sobald die Fische aufhören zu atmen, sinkt der Preis." So logisch das klingen mag, so befremdlich scheint es den nicht-chinesischen Teilnehmern vorzukommen. Eine Dame aus Südkorea wendet sich flink ab. Das Gesicht einer Amerikanerin schimmert im gleichen Grau wie die Schuppen der Fische.
Und jetzt? Mittagessen! Nachdem die Gruppe live miterlebt hat, wie die Zutaten ihrer Nahrung verkauft werden, dürfen sie die verarbeiteten Speisen selbst probieren: gefüllte Teigtaschen, Tofu, Eiernudeln. Insgesamt sechs Lokale steuert die Stadtführerin an, immer darauf bedacht, authentische Hongkonger Spezialitäten anzupreisen. „Macht es wie die Locals", instruiert sie die Teilnehmer. „Stürmt rein, stellt euch neben die Tische und setzt euch sofort hin, wenn ein Platz frei wird." Unhöflich sei das keineswegs, sondern notwendig. „Wenn ihr es anders macht, findet ihr nie einen Stuhl."
Eine Kellnerin bringt frisch gekochte Reisnudeln, die Carrie Poon demonstrativ entgegennimmt. „Pur sind sie viel zu trocken", erklärt sie und schüttet so viel Soja- und Chilisoße darüber, dass das Gericht zur Nudelsuppe mutiert. „Und bloß nicht mit Stäbchen essen! Dafür gibt es kleinere Picker." Obwohl die Urlauber alle Instruktionen befolgen, schauen die Einheimischen fasziniert zu ihnen herüber. Ein wenig wirkt die Szene wie im Zoo, auch wenn bis zum Schluss unklar bleibt, wer hier nun wen beobachtet.
Dreieinhalb Stunden Kulinarik-Crashkurs
Der kulinarische Crashkurs dauert dreieinhalb Stunden. Zur Sprache kommen nicht nur exotische Speisen, sondern auch die Lebensbedingungen in der Megacity. „Mehr als 30.000 Menschen leben in Hongkong noch immer in Käfigen", erzählt Carrie Poon. Sie zeigt auf ein Haus in der Ki Lung Street, ein aschgraues Gebäude mit beschlagenen Fensterscheiben und ratternden Klimaanlagen. „Da drinnen teilen sich bis zu 20 Menschen eine Wohnung. Die Mietpreise sind hier so extrem, dass vielen nichts anderes übrigbleibt."
Womit Poon auch schon wieder beim Essen ist. Viele Lokale, erzählt sie, müssten schließen, weil sie die enormen Mietpreise nicht mehr stemmen können. „Selbst für die kleinsten Nischen werden 10.000 US-Dollar im Monat fällig. Da könnt ihr euch vorstellen, wie viele Reisnudeln die Leute verkaufen müssen." Sie selbst findet, die Regierung müsste deutlich mehr unternehmen, um die Kultur der Dai Pai Dongs zu schützen. „In meiner Generation fangen wir langsam an, solche Dinge wieder zu schätzen. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät."
Auch Reisende können dazu beitragen, die Hongkonger Esskultur zu bewahren – zumindest am eigenen Küchentisch. Diverse Kochkurse haben sich darauf spezialisiert, die Zubereitung von Dim Sum – gedämpfte Teigtaschen – und anderen traditionellen Gerichten weiterzugeben. So etwa das „Hotel Icon" im Bezirk Kowloon. Wer dort übernachtet, kann ein spezielles „Food Package" buchen, in dem eine Lektion mit einem Dim-Sum-Meister inbegriffen ist. Das Ganze findet in der Küche des Hotel-Restaurants statt, mitten im laufenden Betrieb.
Sam Hei Tak, der Dim-Sum-Master, produziert normalerweise 2.000 Teigtaschen am Abend. „Mal sehen, wie viele ihr schafft", sagt er auf Chinesisch und grinst. Eine Dolmetscherin, die für diesen Anlass anwesend ist, übersetzt. Während im Hintergrund Pfannen klappern und Hummer in Kochtöpfe wandern, holt Tak eine Metallschüssel hervor. „Jetzt stellen wir aus Reis- und Kartoffelstärke die perfekten Dim Sum her." Er rührt und knetet, rollt den Teig aus, drückt ihn mit einem Messer platt und stopft die Gemüsefüllung hinein – alles innerhalb weniger Sekunden. „Und jetzt ihr."
Es braucht keinen Dim-Sum-Meister, um zu ahnen, dass die Koch-Novizen einige Sekunden länger brauchen, um ihr Werk zu vollenden. Nach etwa einer Stunde können alle ihre selbst gemachten Teigtaschen probieren, inklusive Tee und Sojasoße. Der Hummer, den Sam Hei Tak demonstrativ auf den Küchentisch gelegt hatte, liegt noch genauso da wie am Anfang des Kurses. Zum Glück war er da auch schon tot.