Vor gar nicht langer Zeit befürchteten Experten eine Langeweile im Boxring, doch bei den schweren Jungs hat sich die Situation grundlegend geändert.
Natürlich weiß auch Wladimir Klitschko von den Gerüchten. Er werde in den Boxring zurückkehren, heißt es, weil es ein wahnsinnig lukratives Angebot gibt. Und vielleicht auch, weil es der 43-Jährige sich selbst und der Boxwelt noch einmal beweisen will. „Wenn die Fans das wirklich sehen wollen, ist es schön", sagte der Ukrainer kürzlich zu den Comeback-Gerüchten: „Ich freue mich, dass mich die Community und der Sport vermissen. Man sagt nie nie." Vor allem nicht in diesen Zeiten. Das Schwergewichtsboxen ist in Aufruhr, nach der sensationellen Niederlage von Superchampion Anthony Joshua gegen Andy Ruiz am 1. Juni im Madison Square Garden von New York gibt es keinen Dominator mehr, wie es einst Klitschko selbst über viele Jahre gewesen war. „Das Schwergewicht steht unter Feuer", sagt Joshua. Seine plötzliche Schwäche wollen nun der neue WBA-, WBO- und IBF-Weltmeister Ruiz, WBC-Gürtelträger Deontay Wilder und der wiedererstarkte britische Ex-Champion Tyson Fury nutzen und zur Nummer eins aufsteigen. Klitschko auch?
In englischen und amerikanischen Medien wurde berichtet, dass der Streaming-Anbieter DAZN, der zahlreiche Übertragungsrechte im Boxsport, auch im Fußball und anderen Sportarten besitzt, Klitschko ein Angebot von über 80 Millionen US-Dollar für ein Comeback geboten hat. Dafür soll „Dr. Steelhammer" angeblich für drei Top-Kämpfe gegen Joshua, Fury und Wilder in den Ring steigen. Das ist selbst für Klitschko, der in seiner zweiten Karriere als Unternehmer zahlreicher Projekte sein Glück versucht, sehr viel Geld. Als Profiboxer hat er geschätzte 100 Millionen Euro verdient, ein Geschäftsmann war Klitschko schon zu aktiven Zeiten. Also dürfte er allein aus finanziellen Gründen zumindest ins Grübeln kommen – wenn das Angebot denn seriös ist.
Joshua steht zwar auch bei DAZN unter Vertrag, Wilder (Showtime) und Fury (ESPN) haben aber andere TV-Partner, die ihre Top-Boxer sicher nicht ohne immensen finanziellen Ausgleich ziehen lassen würden. Außerdem: Klitschkos früherer TV-Partner RTL hat mit dem Olympiasieger von 1996 noch einen rechtsgültigen Vertrag über drei weitere Kämpfe. „Wir hatten über viele Jahre eine von beiden Seiten sehr treue und intensive Partnerschaft und würden uns wundern, wenn diese Vertragstreue von der anderen Seite gebrochen würde", sagte RTL-Sprecher Matthias Bolhöfer.
Auch bestehen Zweifel an der sportlichen Motivation Klitschkos. Ein halbes Jahr nach seiner finalen Niederlage gegen Joshua im Londoner Wembleystadion Ende April 2017 hätte er sofort wieder für einen Rückkampf in Las Vegas in den Ring steigen und dabei 20 Millionen Euro einstreichen können. Doch Klitschko verzichtete, weil er trotz des Knock-outs aufrecht aus dem Ring steigen konnte. „Ich glaube, der Junge sollte im Ruhestand bleiben. Er ist zu alt. Klitschko kann dem Zahn der Zeit nicht entkommen", sagte kürzlich der für sein Großmaul bekannte Fury. Er habe sich kürzlich ein Gemälde von seinem siegreichen Fight gegen Klitschko an die Wand gehängt, „weil es mich jeden Tag daran erinnert, wie ich Wladimir den Arsch versohlt habe".
„Ich glaube, der Junge sollte im Ruhestand bleiben"
Ein Gemälde von Tom Schwarz wird sich Fury mit Sicherheit nicht ins Wohnzimmer hängen. Der deutsche Schwergewichtsboxer aus Magdeburg war beim Duell gegen „The Gypsy King" hoffnungslos unterlegen und musste bereits in der zweiten Runde nach einigen harten Schlägen aufgeben. Nicht einmal sechs Minuten hatte der Kampf gedauert, doch dafür sah das Gesicht von Schwarz reichlich demoliert aus. „Ich habe alles gegeben, was ich geben konnte. Ich wollte gewinnen für Deutschland", sagte der 25-Jährige hinterher. Doch von einem Sieg und einem möglichen WM-Kampf war Schwarz meilenweit entfernt, Fury musste nicht einmal sein ganzes Repertoire auspacken. „Eine ganz miserable Vorstellung", ätzte Trainer-Ikone Uli Wegner in der „Bild am Sonntag". „Gegen so einen Klassemann wie Fury kann man nicht offensiv boxen. Da stimmte nur die Kohle für Manager und Sportler." Fury war jedenfalls zu keiner Sekunde in Gefahr. „Seine Schläge fühlten sich an wie Beton", sagte Schwarz, der keinen einzigen gefährlichen Schlag beim Gegner landen konnte, weil dieser seinen 2,06 Meter großen Körper immer wieder geschickt hin- und herpendelte.
Sportlich konnte Schwarz den britischen Hünen nicht beeindrucken, charakterlich aber schon. Deswegen sagte Fury zu Schwarz direkt nach dem Kampf: „Komm zu mir nach England, und ich mache einen Champion aus dir." Schwarz überlegte ein paar Tage und sagte dann zu. „Ich könnte mir vorstellen, dass ich zwei Monate vor jedem Kampf nach England zu Tyson gehe, dort mit ihm und seinem Team trainiere", sagte Schwarz, dessen Motivation ungebrochen ist: „Ich will der Beste der Welt sein."
Fury ist diesem Ziel deutlich näher. Schon bei seinem umstrittenen Unentschieden am 1. Dezember 2018 gegen Weltmeister Wilder hat der Brite bewiesen, dass er wieder zurück zu alter Stärke gefunden hat. Die wilde Zeit nach seinem Klitschko-Sieg mit Depressionen, Drogen, Dopingsperre und Übergewicht ist vorbei. „Ich bin sehr zufrieden mit mir und meiner aktuellen Position im Leben. Ich bin 30 Jahre alt, und ich habe das Gefühl, noch zehn Jahre auf diesem Niveau kämpfen zu können. So lange werdet ihr mich also noch ertragen müssen", sagt er.
Der unkonventionell boxende Fury ist derzeit bärenstark – und auch mit dem Mundwerk wieder ganz der Alte. „Der Typ ist fertig", sagte der 30-Jährige nach Joshuas Niederlage gegen den krassen Außenseiter Ruiz: „Als Joshua den Ring betrat, habe ich sofort gesehen, dass er in diesem Moment woanders sein wollte." In der Tat wirkte Joshua bei seinem ersten Kampf außerhalb seiner britischen Heimat in New York seltsam gehemmt. „Warum fühle ich mich so", sagte Joshua in einer Ringpause, während er aus der Nase blutete und sein Trainer mit dringenden Worten auf ihn einredete. Doch Joshua hörte kaum zu, sondern fragte: „Welche Runde ist das?" Der muskelbepackte Modellathlet war taktisch schlecht vorbereitet. In der dritten Runde schickte er seinen deutlich übergewichtigen Gegner zwar mit einem linken Haken zu Boden, doch danach gab er seine Deckung auf und wurde selbst zweimal auf die Bretter geschickt. Joshua verlor die Kontrolle über den Kampf, und in Runde sieben nahm ihn der Ringrichter nach einem weiteren Schlaghagel seines Gegners endgültig aus dem Spiel. Die WM-Gürtel der Verbände WBA, WBO und IBF waren verloren. „Das wird für immer in Erinnerung bleiben. Das wird ihn hart treffen. Manche Boxer verlieren und kämpfen sich zurück, andere erreichen danach nie wieder dieses Level", sagte Joshuas Promoter Eddie Hearn. Die Boxfans werden es bald erfahren, denn Hearn organisierte für Ende des Jahres einen schnellen Rückkampf zwischen Joshua und Ruiz. Nicht alle halten das für eine gute Idee. „Er wurde nicht nur niedergeschlagen. Er wurde regelrecht vernichtet", sagte Box-Ikone Roy Jones Junior. „Joshua muss zuerst seine Boxtechnik verbessern. Sobald er das getan hat, kann er über einen Rückkampf nachdenken."
„Er wurde regelrecht vernichtet"
Denn nur mit Muskeln, das hat der erste Kampf bewiesen, ist Ruiz nicht beizukommen. Dem US-Amerikaner mit mexikanischen Wurzeln, der nur als Ersatzmann für den wegen Dopings gesperrten Jarrell Miller eingesprungen war, gelang an jenem 1. Juni eine Box-Sensation, die Experten mit der von Mike Tysons Niederlage gegen James „Buster" Douglas 1990 in Tokio gleichsetzten. Der um zehn Zentimeter kleinere und wenig austrainierte Ruiz, dem der Bauchspeck über den Hosenbund schwappte, hatte Adonis Joshua, den Poster Boy von der Insel, einfach so gefällt. Ruiz sei „eine ganz besondere Art von Fighter", schwärmte Jones jr., er sei „der beste Kombi-Puncher der gesamten Schwergewichtsszene". Niemals hätte er, der ehemalige Weltmeister in fünf Gewichtsklassen, gegen Ruiz boxen wollen, „weil er Kombinationen und schnelle Hände schlägt, die diesem doch ziemlich fülligen Kerl gar niemand zutraut. Andy Ruiz ist dick und stark", so Jones Junior weiter.
Über seine Körperfülle scherzt Ruiz selbst, er nennt sich „kleines fettes Kind". In jungen Jahren hatten ihn seine Eltern mit Schokoriegeln für ein gutes Training belohnt, noch heute isst er Süßigkeiten für sein Leben gern. Dass ihn andere wegen seines Körpers unterschätzen, hat ihn auch zu dem gemacht, der er heute ist. „Ich war ein moppeliges Kind, also musste ich immer gegen die älteren Jungs kämpfen. Die vielen Schläge, die ich einstecken musste, haben mich hierher gebracht", sagt der 25-Jährige. „Ich habe kämpfen gelernt."
Das muss nun auch Joshua, dessen bislang so linear nach oben verlaufene Karriere an einem Scheideweg steht. WBC-Weltmeister Wilder, der bislang vergeblich auf einen Kampf gegen den Briten gewartet hat, glaubt nicht an ein heroisches Comeback: „Er war kein wahrer Champion. Seine ganze Karriere bestand aus Lügen, Widersprüchen und Geschenken. Jetzt wissen wir, wer vor wem davonlief."