Ein Hightech-Arm, der Schnürsenkel bindet oder Flaschen greift: So will der Orthopädietechnik-Hersteller Ottobock Menschen mit Einschränkungen das Leben erleichtern. In diesem Jahr wird der Weltmarktführer 100 – und hat an seinem Gründungsstandort Berlin ein Forschungszentrum eröffnet.
Die Geschichte wartet hinter jeder Ecke: Alte Dampfkessel der ehemaligen Bötzow-Brauerei neben der Cafeteria, historische Baustruktur in den Treppenhäusern, ein altes Förderband im Obergeschoss. Von dort aus reicht der Blick über das gesamte Areal bis hin zum früheren Bötzow-Biergarten – schon Karl Liebknecht hielt dort einst seine Kundgebungen ab. Tradition mit Innovation zu verbinden: Darum ging es auch Hans Georg Näder, Chef des Medizintechnikunternehmens Ottobock, als er das traditionsreiche Gelände im Prenzlauer Berg 2012 erwarb. Am Standort der ehemals größten Berliner Privatbrauerei befindet sich nun der Forschungs- und Entwicklungsbereich des deutschen Weltmarktführers in der technischen Orthopädie und Prothetik. Ziel ist es, Zukunftsthemen wie die Digitalisierung der Orthopädietechnik voranzutreiben.
„Berlin ist ein historisch wichtiger Standort für uns", sagt Unternehmenssprecher Mark Schneider. In Kreuzberg war die heutige Firma Ottobock im Januar 1919 als Orthopädische Industrie GmbH von dem Unternehmer Otto Bock gegründet worden, um die vielen tausend Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs mit Prothesen und orthopädischen Produkten zu versorgen – die Grundsteinlegung für die moderne orthopädische Industrie. Wegen der politisch unruhigen Zeiten zog die Firma jedoch schon Ende 1919 nach Königsee in Thüringen um, wo seit der Wende auch wieder produziert wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der entschädigungslosen Enteignung durch die sowjetischen Besatzer siedelte das Unternehmen nach Duderstadt im südlichen Niedersachsen über, wo sich bis heute der Firmensitz befindet.
Es begann mit den Kriegsversehrten
Gleichwohl ist und bleibt die Bedeutung des Berliner Standortes enorm wichtig – gerade zum 100. Firmenjubiläum. Hier tüfteln in der Rollstuhlmanufaktur Experten daran, wie sich die Rollstuhltechnik weiter optimieren lässt und damit die Mobilität für Menschen mit körperlichen Einschränkungen verbessert werden kann. Im Hof gibt es dafür extra eine hauseigene Teststrecke mit simulierten Bordsteinkanten und unterschiedlichen Untergründen. Bald sollen auf Bötzow vor allem Patienten aus dem Ausland versorgt und Prothesen, Orthesen und Rollstühle direkt angepasst werden.
„Eine Amputation zu erleiden, bedeutet ein traumatisches Erlebnis. Deshalb wollen wir unseren Anwendern den Aufenthalt so angenehm wie möglich gestalten", erklärt PR-Managerin Lisa Marx. In der geschützten Umgebung des „Human Mobility Service Center" können die Patienten (Firmenjargon: „Anwender") die ersten Schritte mit ihren Prothesen unternehmen. Bislang sind die Räume allerdings noch weitgehend leer. Lediglich der Tisch für die Rezeption steht bereits im Foyer.
Basierend auf einem Masterplan von Stararchitekt David Chipperfield entsteht im Bötzow-Viertel gerade ein ganz neues Stadtquartier. Wohnungen sind ebenso vorgesehen wie Büro- und Konferenzräume oder temporär mietbare Räumlichkeiten für Freiberufler – und auch wieder ein Biergarten, der allerdings etwas kleiner ausfällt als der alte. Dabei ist Ottobock nicht der einzige Nutzer des Geländes: Erst kürzlich ist der Pharma- und Laborzulieferer Sartorius als neuer Ankermieter eingezogen. Daneben beherbergt das Areal mehrere Start-ups, an denen Ottobock Anteile besitzt.
Prothesen werden nicht mehr versteckt
Das Medizintechnikunternehmen ist weltweit führend. 2017 stiegen der Umsatz auf 927,4 Millionen Euro und die Mitarbeiterzahl auf rund 7.000 weltweit. In Berlin sind aktuell über 70 Mitarbeiter beschäftigt, mittelfristig sollen es bis zu 200 werden. Zu solchen Planungen passt ein Sinneswandel der vergangenen Jahre: Prothesen würden längst nicht mehr schamhaft versteckt, so Lisa Marx, sondern mittlerweile stolz zur Schau getragen. „Body Positivity" heißt der neue Trend, nach dem Motto: Jeder Körper ist schön. „Das merken wir auch bei den Prothesen", sagt Marx. Die kämen nämlich heute nicht mehr nur hautfarben daher, sondern manchmal als regelrechter Hingucker. „Ich kenne Armamputierte, bei denen sieht der Schaft so avantgardistisch aus wie eine Terminator-Hand."
Ottobock hat bestimmt das Seinige zu dieser Entwicklung beigetragen. Seit über 30 Jahren, seit den Paralympics 1988 in Seoul (Südkorea), engagiert sich das Unternehmen im paralympischen Sport. Im nächsten Jahr wird es offizieller Support-Partner für die Paralympischen Spiele in Tokio – und dort bereits zum 16. Mal den technischen Service bereitstellen. Ein Team aus hundert erfahrenen Orthopädietechnikern, Rollstuhlspezialisten und Schweißern unterstützt dann alle Athleten kostenlos, unabhängig von ihrer Nationalität oder dem verwendeten Hilfsmittel. Dabei werden Reparaturen sowohl für Sport- als auch Alltagsprodukte angeboten – so können sich die Athleten auf ihre Wettkämpfe konzentrieren.
Neu seit dem vergangenen Jahr ist der Geschäftsbereich Ottobock Industrials, bei dem es um Entlastung und somit um gesündere Arbeitsbedingungen geht. Das erste Produkt von Ottobock Industrials war ein sogenanntes Exoskelett: eine Art Rucksack, der das Gewicht der erhobenen Arme bei der Überkopfarbeit mithilfe einer mechanischen Seilzugtechnik auf die Hüfte ableitet. „Exoskelette für den industriellen Einsatz werden viele Arbeitswelten nachhaltig verändern", sagt Dr. Sönke Rössing von Ottobock Industrials. „Sie können in vielen Branchen eine bedeutende Rolle für die betriebliche Prävention spielen und zu ergonomischeren Arbeitsplätzen führen." Im Unterschied zu Prothesen, Orthesen und Rollstühlen, die von der Krankenkasse verschrieben werden, sind die Exoskelette frei verkäuflich – ein neuer Bereich mit vielversprechenden Wachstumsmöglichkeiten.
Partner für die Paralympics
Eine weitere Innovation sind intelligente Prothesen. Im März 2019 kam Myo Plus auf den Markt, die europaweit erste Prothesensteuerung mit Mustererkennung. Mithilfe von Elektroden misst die Prothese Bewegungsmuster der Muskeln im Unterarmstumpf und ordnet ihnen bestimmte Handbewegungen zu, etwa das Binden eines Schnürsenkels oder das Drehen eines Türknopfes. Greift der Patient also nach einer Flasche Wasser, erkennt Myo Plus das zugehörige Bewegungsmuster und gibt der Prothese automatisch den Befehl, den jeweiligen Griff oder die Rotation auszuführen.
Aber wie weit dürfen wir gehen? Wo ist die Grenze zwischen Mensch und Maschine? „Wir merken, dass diese Fragen keine bloße Zukunftsmusik mehr sind, sondern auf uns zukommen. Aber als Unternehmen allein können wir sie nicht beantworten. Deswegen müssen wir uns als Gesellschaft damit auseinandersetzen", sagt Mark Schneider. Ottobock-Chef Hans Georg Näder schreibt in seinem kürzlich erschienenen Buch „Futuring Human Mobility" dazu: „In unserem christlichen humanistischen Weltbild spielt der Respekt vor der Schöpfung eine zentrale Rolle. Wir wollen die Natur nicht übertrumpfen, sondern dem menschlichen Wesen in seiner Not und Unvollkommenheit mit Empathie zur Seite stehen, ohne dabei ethische Grenzen zu überschreiten."