Mit Wattehandschuhen Flaschen öffnen, Notizen schreiben oder mit Joghurt füttern: Alles gar nicht so einfach. Auf „Entdeckertouren" konnten Schüler in Krankenhäusern den Pflegealltag selbst ausprobieren und waren positiv überrascht von der Vielfalt und den Herausforderungen.
Beim ersten Versuch, eine Wasserflasche zu öffnen, rutscht Max’ Hand einfach durch. Das Handgelenk fügt sich zwar dem Gedanken und vollzieht die nötige Drehung, zum Ziel führt diese Bewegung allerdings nicht. Die gepolsterten Handschuhe rauben Max jeglichen Tastsinn. Seine dick eingepackte Handfläche streift dabei nur das Plastik, der Drehverschluss der Flasche bleibt jedoch weiterhin fest am Flüssigkeitsbehälter sitzen. „So ein Mist", ärgert sich Max und wirft einen kurzen Blick zu seinem Schulkameraden, der ihn etwas belustigt von der Seite beobachtet. „Es ist wirklich nicht einfach mit solchen Roboterhänden", erklärt sich der Schüler der Katharine-Weißgerber-Schule in Saarbrücken-Klarenthal leicht verlegen vor seinem grinsenden Kumpel. „Ich muss nur richtig gut zupacken." Doch auch beim zweiten Versuch gelingt es dem Jungen nicht, den Drehverschluss der Flasche richtig zu greifen. Die Hand rutscht wieder durch, die Flasche bleibt verschlossen. „Hi Alter, brauchst du Hilfe?", zieht ihn sein Klassenkamerad mit einem ironischen Unterton auf. „Nein", schießt es aus Max heraus. „Ich schaaaff daaaas!" Seine langgezogene Kampfansage begleitet der Schüler mit einem immensen Kraftaufwand. Die beiden Jungs hören ein plötzliches Zischen. Luft entweicht dem Wasserbehälter. Max hat es tatsächlich geschafft, die Flasche ist geöffnet. Sichtlich entspannt rundet er seinen Sieg mit einem coolen Spruch ab. „War doch gar nicht so arg schwer. Auch wenn ich das echt nicht noch mal haben muss." „Jaja", unterbricht ihn sein Kumpel. Mittlerweile hat Max’ Klassenkammerad die Handschuhe übergestreift und greift nach der nächsten verschlossenen Übungsflasche. „Jetzt zeige ich dir, wie es wirklich geht", kündigt er selbstsicher seine anstehende Handbewegung an und grinst. Der erste Test. Ein irritierter Blick: „Du, das ist echt komisch." Unverhofft gibt er seinem Kumpel Max Recht. „Das ist wirklich ein ganz komisches Gefühl."
Ein Satz, den der Gesundheits- und Krankenpflegeschüler Christian Meyer schon öfter von seinen Patienten zu hören bekommen hat. „Wenn Funktionsstörungen der Nerven auftreten und die Gliedmaßen an Sensibilität verlieren – wie beispielsweise bei solchen Krankheiten wie Diabetes – klagen sie öfter über ein solches komisches Gefühl", erklärt der Auszubildende des DRK-Krankenhauses in Saarlouis. „Die Betroffenen vergleichen das oft mit dem Gefühl, Handschuhe oder Strümpfe zu tragen. Sie würden zwar noch die Formen ertasten können, aber eben nur sehr vage. Aus diesem Grund war es für uns heute auch so wichtig, den Schülern diese Erfahrung zu bieten, damit sie sich in die Betroffenen hineinversetzen und damit auch ein Stück weit herausfinden können, was die Patienten alles in ihrem Alltag meistern müssen."
Mit Alterssimulation zu mehr Sensibilität
Szenen von einer „Entdeckertour Pflege", die die Schüler für einen Tag ins DRK-Krankenhaus Saarlouis führte. Dort hatten bereits Azubis für diesen Tag einen ganzen Alterssimulationsparcours mit fünf unterschiedlichen Stationen entwickelt und vorbereitet. „Bei der ersten Station geht es um den Verlust der Sensibilität der Gliedmaßen", schildert Christian die einzelnen interaktiven Alterssimulationsaufgaben. Zusammen mit seinen Azubi-Kollegen baute Christian in mühevoller Arbeit die einzelne Station seines Workshops zusammen. Auch die zweite Station in der Saarlouiser DRK-Klinik widmet sich demselben Thema, der Sensibilität, allerdings auf eine andere Weise. „Wir bieten den Schülern an, mit gefütterten Handschuhen zu schreiben. Hier hilft übrigens auch keine rohe Gewalt mehr", spielt Christian auf die Herangehensweise von Max an. „Wer diese Aufgabe erfolgreich meistern möchte, braucht viel Geduld." Die dritte Station umfasst gleich zwei unterschiedliche Aufgabenstellungen. „Es geht darum, einander mit einem Joghurt zu füttern", weiß Christian. Der eine Part übernimmt dabei die Aufgaben eines Pflegers und reicht seinem „Patienten" einen Dessertlöffel mit der cremigen Nachspeise an. „Natürlich darf der ‚Pfleger‘ in dieser Aufgabe nicht zu hastig vorgehen", schildert Christian die Herausforderung dieser auf den ersten Blick einfachen Aufgabe. „Es geht vielmehr darum, sich auf den Patienten einzustellen. Mit ihm einen gemeinsamen Rhythmus zu finden." Darum geht es auch bei der vierten Station: die Blindenführung. Hierbei werden einem der Schüler die Augen verbunden. Anschließend führt ihn sein „sehender" Partner durch die Räume der Saarlouiser Krankenpflegeschule, die direkt an die Klinik angrenzt. Sobald die Runde gemacht wurde, tauschen die Schüler ihre Rollen untereinander. Bei der letzten Station – dem Rollstuhlparcours – dreht sich alles um eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten. Mit einer Halskrause ausgestattet, schlüpfen die Schüler bei dieser Alterssimulationsaufgabe erneut in die Rolle des Patienten und setzten sich in einen Rollstuhl. Dabei sind die Kinder auf sich alleine gestellt. Keiner schiebt sie an. Keiner hilft ihnen dabei, die scharfen Kurven zu nehmen, die die Klinik-Azubis mithilfe von Bodenmarkierungen aufgebaut haben. „Hierbei geht es erneut darum, Verständnis für die Patienten zu entwickeln", erklärt Christian. „Wer schon in einem Rollstuhl gesessen hat, wird es wissen – es ist alles gar nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint", bringt er es auf den Punkt. „Aber genau aus diesem Grund beteiligen sich meine Kollegen und ich auch so gern an dieser Initiative. Um endlich mit den ganzen Vorurteilen gegenüber den Pflegeberufen aufzuräumen."
Dafür steht auch das Musterbeispiel „Entdeckertouren Pflege". Ziel dieser von der Arbeitskammer des Saarlandes ins Leben gerufenen Initiative ist es, mehr junge Menschen für Pflegeberufe zu begeistern und darüber zu informieren, wie vielfältig und anspruchsvoll eine solche Arbeit ist. Dabei setzten die Organisatoren nicht nur auf theoretisches Wissen. Im Zentrum der Initiative stehen vor allem das Ausprobieren und das Erleben. Rund 240 Gemeinschaftsschüler und Gymnasiasten aus den Klassenstufen acht und neun waren an der groß angelegten Aktion beteiligt und besuchten insgesamt fünf saarländische Kliniken. „Die Entdeckertouren Pflege sind für uns, die Kliniken und die rund 240 Schülerinnen und Schüler aus dem ganzen Saarland ein echter Erfolg", zieht Beatrice Zeiger, Geschäftsführerin der Arbeitskammer des Saarlandes, ihre erste Bilanz. „Es gab viele interessierte Nachfragen und bereits die ersten Bewerber, wie uns einzelne Kliniken berichten", und Zeiger ergänzt: „Unsere Entdeckertouren kamen bei den Kliniken und Schulen so gut an, dass wir die Touren nächstes Jahr noch einmal anbieten werden."
Einige Schüler haben sich bereits beworben
Tatsächlich punkten die „Entdeckertouren Pflege" mit den vielfältigsten Einblicken. Neben den Besichtigungen der Krankenhäuser und Touren durchs riesige Klinikumgelände hatten die möglichen Nachwuchspfleger sogar die Möglichkeiten, OP-Räume zu besuchen. „Und sogar bei einer Operation live dabei sein zu können", erzählt Isabel Winzer, Referentin der Geschäftsführung der Arbeitskammer. Winzer war bei allen fünf Workshops dabei und begleitet die Teilnehmer auf ihrer Entdeckungstour. Die Bilder der OP in der Universitätsklinik in Homburg teilten die Schülergruppe gleich in zwei Hälften. „Die einen wusste gleich, dass dieser Job nichts für sie ist", weiß die Referentin. „Dafür ist die andere Hälfte der Schüler gleich sehr investiv in die OP-Thematik eingestiegen. Vor allem der Bereich der Anästhesie sprach viele Schüler besonders an, wegen der ganzen Technik, die bei der Narkose genutzt wird. Das fanden die Kinder richtig spannend."
Tatsächlich bieten Berufsbilder innerhalb der Pflege sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten, sich zu verwirklichen. So wie beispielweise bei Christian Meyer, dem Gastgeber der letzten Krankenhaus-Tour. „Eigentlich wollte ich zum Rettungsdienst", zeichnet er seinen Weg in die Pflege. „Dafür war ich allerdings viel zu jung, zu diesem Zeitpunkt", erzählt der Azubi, „ich war nicht mal 18 Jahre alt." So entschied sich Christian für ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Notaufnahme. „Seitdem bin ich in der Pflege geblieben. Weil es mir Freude macht, Menschen zu helfen und weil ich mich richtig ausleben kann", bringt er seine Motivation in einem Satz auf den Punkt.
Und diese Freude keimt auch bei den Schülern auf. Als es um „Blindenführung" geht, zeigt sich Max plötzlich von einer ganz anderen, sensiblen Seite. „Ganz vorsichtig, mein Großer", dirigiert er seinen Klassenkameraden durch die Gänge der Krankenpflegeschule. „Da musst du aufpassen, wir kommen gleich zur Treppe", navigiert Max. Auf die Frage, ob Pflege ihm Spaß macht, hat der Schüler noch keine Antwort. Doch mit jeder weiteren Station scheint der Junge immer sensibler zu werden. „Ich habe Verantwortung für meinen Patienten, deswegen bin ich auch so ernst", und: „Schließlich sind wir nicht zum Rumalbern hier."