Ausprobieren, in neue Rollen schlüpfen und sich selbst kennenlernen. Vor 30 Jahren gründete Bob Ziegenbalg den ersten Kinder- und Jugendclub am Theater ÃœberÂzwerg in Saarbrücken. Auch für unsere Autorin begann damit einer der glücklichsten Abschnitte ihres Lebens.
In die Rolle eines Mannes schlüpfen und quer über die Bühne laufen? Für uns, frischgebackene „Überzwergerinnen" war das natürlich kein Problem. Zumindest gingen wir davon aus. Schultern nach Hinten, Brust raus, Hände zu Fäusten geballt, stampften wir mit erhobenen Köpfen vor unseren männlichen Kinderclub-Kollegen umher. Wir wischten uns mit den Fäusten die Nase, spuckten pantomimisch auf den Bühnenboden und griffen uns demonstrativ in den Schritt. So wie richtige Männer das eben tun. Dachten wir jedenfalls. Auch unsere männlichen „Überzwerger" bauten ihre Improvisation ähnlich überzeichnet auf. Im Gegensatz zu uns Mädchen hatten die Jungs die Aufgabe, in die Rolle der Frauen zu schlüpfen. Auf Zehenspitzen tippelnd warfen sie ihre imaginären Haarsträhnen über die Schultern oder checkten pantomimisch das Make-up.
„Wie oft seht ihr einen solchen Typ Mann auf der Straße?", fragte uns unser Theaterleiter Bob Ziegenbalg im Anschlussgespräch an die Improvisationsrunde. „Oder habt ihr schon mal so ein Mädchen auf dem Schulhof gesehen, das sich wirklich so verhält?" Wir wurden nachdenklich. Eigentlich nicht. Das, was wir eben bei unserer ersten Kinderclub-Impro abgeliefert hatten, hatte nichts mit Schauspiel zu tun. Bestenfalls war es eine Parodie, wie wir selbst bei der Feedbackrunde feststellen durften. „Aufmerksamkeit und Beobachtungsgabe sind ein wichtiger Teil unseres Berufs", führte uns Bob Schritt für Schritt an die Schauspielkunst heran. Wenn man etwas wahrhaftig verkörpern möchte, muss man es zunächst verstehen. Dafür muss man lernen zu hören, zu sehen und das bewusst wahrzunehmen, was einen umgibt. An diesem Tag beendete er unser Kinderclub-Treffen mit einer kleinen Hausaufgabe. „Schaut euch um, wenn ihr auf dem Weg zur Schule seid. Wer läuft euch entgegen? Wie sieht diese Person aus? Wie ist ihre Haltung, ihre Gangart? Hat sie vielleicht Eigenheiten, die ihre Bewegungen auszeichnen? Welche Rolle spielt dabei das Alter?"
Das Gespräch liegt mittlerweile 17 Jahre zurück. Und doch bleibt die Erinnerung an den ersten Tag im Kinderclub Überzwerg gestochen scharf. „Vermutlich, weil es nachhaltig dein Leben verändert hat", sagte mir Anna Rausch Jahre später, als wir uns zufällig begegneten. So wie ihres. Als zwölfjährige Mädchen spielten wir Seite an Seite auf der Überzwergbühne und stampften auch an jenem ersten Theatertreffen als Macho-Männer nebeneinanderher. Mittlerweile ist sie eine professionelle Theaterschauspielerin geworden, war sogar in einem Spielfilm zu sehen. Ohne unseren Kinderclub wären wir vermutlich nicht da, wo wir heute sind, sagte mir Anna zum Abschied. „Wir hatten einfach sehr viel Glück gehabt."
Viele wurden professionelle Schauspieler
Diese Meinung teilen vermutlich alle ehemaligen „Überzwerger". Rund 38 Jugendclub-Absolventen stiegen anschließend professionell in die Schauspielerei ein. Manche fanden Engagements an Theatern oder gingen zum Film und Fernsehen. Unser ehemaliger Kinderclub-Kollege Ali Berber hat jetzt beispielsweise eine Festanstellung am Saarbrücker Staatstheater gefunden. Ein anderer Freund aus der Jugendclub-Zeit, Gerrit Bernstein, kam als ausgebildeter Schauspieler in unser ehemaliges Kinder- und Jugendtheater zurück und spielt jetzt an der Seite von Bob. Ein noch größerer Teil unserer Absolventen wählte einen künstlerischen Beruf. Aus meinen Freunden wurden Autoren, Journalisten, Musiker und Sänger. Unsere Lebenswege sind unterschiedlich verlaufen. Die Erinnerungen fallen dagegen sehr ähnlich aus. „Unsere Zeit im Überzwerg gehört zu meiner glücklichsten Zeit", verriet mir meine Freundin Franziska Weber, als wir vor ein paar Jahren in Erinnerungen schwelgten. Als sie vor rund 16 Jahren in unserem Theater aufgeschlagen hat, war Franziska ein etwas unsicheres junges Mädchen. Jetzt ist sie eine selbstbewusste Künstlerin geworden. Eine Sängerin, die mit ihrer melodischen und starken Stimme die Hörer in ihren Bann zieht.
Wie man sich richtig auf der Bühne präsentiert und mit dem Publikum kommuniziert, lernte Franzi – so wie wir alle – von Bob. „Er hat uns sehr viel beigebracht", bringt sie es bei einem unserer zahlreichen nostalgischen Gespräche auf den Punkt. „Nicht nur für die Bühne, auch so, für das Leben." Tatsächlich ging die pädagogische Arbeit von Bob weit über das Schauspiel hinaus, er brachte uns sehr viel über uns selbst bei.
Gegründet wurde der erste Jugendclub Überzwerg vor 30 Jahren. Damit leistete der damals noch junge künstlerische Leiter des Kinder- und Jugendtheaters, Bob Ziegenbalg, echte Pionierarbeit. Solche Jugendtheatergruppen keimten zu dieser Zeit erst auf und waren alles andere als etabliert. Dennoch lag es für den Wahlsaarländer – Bob wurde in Unterfranken geboren – auf der Hand, mit jungen Menschen zu arbeiten. „Weil wir uns gegenseitig so viel geben konnten", erklärte mir Bob seine Intention bei unserem letzten Treffen auf dem Innenhof vom Überzwerg. Dabei ging es ihm nie darum, aus uns allen professionelle Schauspieler zu machen. In Bezug auf diesen Berufsstand war Bob stets ehrlich zu uns: Viel Arbeit, wenig Geld und ein harter Kampf um die Rollen. „Natürlich werde ich euch unterstützen, wenn ihr euch dafür entscheidet, euch bei einer Schauspielschule zu bewerben", sagte er uns immer wieder. Doch dafür mussten wir auch etwas leisten. „Zunächst einmal den Text lernen, euch drei unterschiedliche Rollen überlegen, mit denen ihr vorsprechen wollt", fügte er immer an. „Wer das nicht hinbekommt, dem helfe ich auch nicht." Ja, wir lernten sehr viel von ihm in dieser Zeit. Aber auch Bob nahm Impulse von uns auf. Das war ihm sehr wichtig. Schon immer. „Wenn ich nur abliefern möchte, dann würde ich zu den Menschen keinen Zugang finden", wusste der Profi. „Man muss einander auf Augenhöhe begegnen und die Menschen ernst nehmen, egal wie alt sie sind. Dann kann man auch zu ihnen durchdringen."
Bühne wurde für den Nachwuchs zu einem geschützten Raum
Heute bietet das Kinder- und Jugendtheater insgesamt vier Clubs an. Mit acht Jahren steigen die Nachwuchsschauspieler ein, mit dem Abitur endet die Überzwerg-Phase. So wie auch bei uns damals. Nur waren wir früher etwas älter. Wir stiegen mit zwölf Jahren ein. Abgesehen davon gibt es laut Bob keine gravierende Veränderung. Es kommen im Schnitt immer noch mehr Mädchen als Jungs. „Weil sie sich einfach mehr trauen, etwas auszuprobieren", erklärt Bob.
Bei den Jungs ist es etwas schwieriger: Wenn sie für sich eine bestimmte männliche Haltung entschieden haben, dann klammern sich die Jungs in der Regel daran fest und trauen sich nur selten, aus der Rolle zu fallen. „Man will als junger Mann natürlich cool rüberkommen und das Gesicht vor den anderen wahren", erzählte mir Bob etwas scherzhaft. „Vor allem vor Mädchen." Ich muss grinsen. In unsere Gruppe war es auch so: Die Jungs waren am Anfang wesentlich zurückhaltender. Allerdings nicht sehr lange. Mit sehr viel Empathie ist es Bob innerhalb kürzester Zeit gelungen, uns einen „sicheren Raum" zu geben. Einen Ort zu schaffen, in dem wir uns ausprobieren konnten, ohne Angst vor Kritik oder verächtlichen Lachern. Das ging sowieso nicht. Wer seinen Schauspielkollegen keinen Respekt entgegenbrachte oder sie auf der Bühne unterbrach, wurde des Raumes verwiesen.
In meiner Erinnerung ist es nur einmal passiert, ziemlich am Anfang unserer Überzwerg-Zeit. Weil einer unsere neuen Freunde ständig geredet hat, wurde er für wenige Minuten rausgeschickt. Für uns hatte das eine nachhaltige Wirkung. So wie auch für den Betroffenen selbst. Wir wurden eben ernst genommen, und das hatte wiederum Konsequenzen für unser Verhalten.
In den kommenden Jahren wird Bob die künstlerische Leitung des Kinder- und Jugendtheaters Überzwerg – am Kästnerplatz in St. Arnual – an seine Nachfolgerin übergeben. Sie steht bereits fest. Auch die insgesamt vier unterschiedlichen Clubs für den Nachwuchs sind schon lange in neuen festen Händen. Die Leitung übernehmen die professionellen Schauspieler aus dem Überzwerg. „Eine davon ist übrigens eine ehemalige Jugendclub-Absolventin", erzählt Bob. Er hat auch schon Pläne für die Zeit danach. „Vielleicht mache ich eine Rundreise und besuch alle meine ‚Kinder‘ an ihren neuen Theatern. Das hatte ich mir schon länger vorgenommen."