Lance Armstrong war für eine Zeit das Beste, was dem Radsport passieren konnte – während er ihn eigentlich gänzlich ruinierte. 20 Jahre nach seinem ersten Tour-de-France-Triumph blickt FORUM auf einen Mann zurück, der als Heiliger galt, seinen Status aber komplett eingebüßt hat.
Lance Armstrong bekam immer seinen Willen. Sein Anwesen im texanischen Austin hatte einen Wert von zehn Millionen Dollar, pure Idylle, alles schien perfekt. Doch Armstrong gefiel der Standort einer riesigen Eiche überhaupt nicht. Kurze Zeit später stand sie 50 Meter weiter im Osten, das kostete zwar 200.000 Dollar, doch Lance Armstrong war es gewohnt, immer genau das zu bekommen, was er will. Sein schwieriges Ego wird durch eine Geschichte untermalt, die nun schon 21 Jahre zurückliegt. Beim Cascade-Classic-Rennen in den USA ist ein Kinder-Wettkampf angesetzt, Armstrong soll die Kleinen begleiten und motivieren. Fünf- bis Zehnjährige nehmen daran teil, kurz vor dem Ziel führt ein Zehnjähriger. Armstrong, frisch genesen von seiner damaligen Krebserkrankung, überholt den kleinen Jungen und gewinnt das Rennen. Er hasst es zu verlieren. Selbst gegen Kinder bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung. Seine skrupellose Vorgehensweise zeigte sich also schon ein Jahr vor seinem ersten Tour-de-France-Sieg, bei dem er ähnlich rücksichtslos sein ausgeklügeltes Werk verrichtete.
Vor genau 20 Jahren war Armstrong nicht zu stoppen, er dominierte seine Gegner und gewann souverän das härteste und bedeutendste Radrennen der Welt. In einer Art und Weise, die nicht nur Kenner der Szene skeptisch werden ließ. Die ganze Welt fragte sich: Wie ist das möglich?
Der zu diesem Zeitpunkt 27-jährige Texaner Lance Armstrong war unaufhaltsam, für ihn liefen die Dinge großartig. Er war viel mehr als nur ein Held, er war ein Symbol. Auferstanden von den Todgeweihten. Am 2. Oktober 1996 wurde bei ihm eine Hodenkrebserkrankung diagnostiziert, samt Metastasen in der Lunge, dem Bauchraum und im Gehirn. Er besiegte sie und stieg zum Lazarus der Sportwelt auf, er galt als Beispiel dafür, dass diese Krankheit zu besiegen ist und auch danach noch ein gutes Leben möglich ist – die Amerikaner, aber auch die ganze Welt lieben solche Stories.
Wie passend also, dass jemand, der den Krebs besiegte, als Gesicht der Tour-de-France im Jahre 1998 galt, einem „Rennen der Erneuerung". Denn 1998 durchlebte die Frankreich-Rundfahrt eine Tour de Farce, ein Doping-Rennen mit dem Ausschluss des französischen Top-Teams Festina wegen Dopingmissbrauchs, Polizei-Razzien, aus dem Rennen fliehenden Teams und streikenden Fahrern. Dann aber erhebt sich aus der Masse ein Krebs-Überlebender und gewinnt das Rennen. Sauberer kann ein Mensch nicht sein, so denken zumindest die Fans – und die Medien haben wieder ihre große Story.
„Früh entschieden, ohne Skrupel und Reue vorzugehen"
Armstrong gewinnt im Sommer 1999 den Tour-Prolog und schnappt sich am ersten Tag das Gelbe Trikot. Am Himmel des Radsports erhebt sich ein neuer Star, Zuschauer strömen an die Strecken, und die Organisatoren können ihr Glück kaum fassen. Armstrong verliert das Gelbe Trikot, holt es sich bei der achten Etappe, dem Zeitfahren in Metz, zurück und behält es bis zum Ende. Dieser Triumph kam nicht von ungefähr, sondern war das Ergebnis eines Lügennetzes, das es unmöglich machte, dass Armstrong auf den Boden der Tatsachen fiel. Juliet Macur, eine US-Autorin, die eine Armstrong-Biografie verfasste, brachte es kurz und knapp auf den Punkt: „Früh hat Lance Armstrong entschieden, ohne Skrupel und Reue vorzugehen." Seit 1995 nahm er Epo, ein Blutdopingmittel für Ausdauersportler, das die Leistung ums Unermessliche steigen lässt. Als er 1996 krebskrank auf seinem Krankenbett lag, gestand er vor seinen engsten Vertrauten zudem, dass er „Wachstumshormone, Kortison, Epo, Steroide und Testosteron" zu sich genommen habe. Also das komplette Paket. Ob dadurch der Krebs in Armstrongs Körper so verstreut wurde? Er bezweifelt das. In einem Interview mit NBC Sports sagte er vor Kurzem: „Wir haben getan, was wir tun mussten, um zu gewinnen. Es war illegal, aber ich würde nichts ändern – ob es den Haufen Geld betrifft, den ich verloren habe, oder dass ich vom Held zur Null geworden bin." Armstrong meinte, wenn er nur gedopt hätte und still gewesen wäre, hätte es keine Ermittlungen und schließlich auch keine Strafen gegeben. „Ich habe darum gebettelt, ich habe sie regelrecht eingeladen, mich zu verfolgen. Es war ein leichtes Ziel", sagte er und gab zu, dass er Whistleblower wie Floyd Landis nie hätte attackieren dürfen, „zumal das meiste, was sie sagten, stimmte".
Armstrong war klar, dass er bei seinem Comeback erneut in die Doping-Kiste greifen müsse – laut Macur hat ihn das aber nicht abgeschreckt. Nach allem, was in dem Bericht der US-Antidoping-Agentur (Usada) aus dem Jahre 2012 zu lesen ist, bauten Armstrongs Mannschaften ein „massives Teamdopingsystem" auf, welches „umfassender und größer war als jedes zuvor entdeckte in der Geschichte des Sports". So kommt es nicht von ungefähr, dass Armstrong neben seinem Titel im Jahr 1999 auch die Tour-de-France der Jahre 2000, 2001, 2002, 2003, 2004 und 2005 gewinnen konnte. Siebenmal in Serie – eine surreale Erfolgsserie.
Travis Tygart, der Chef der angesprochenen Usada, schreibt in seinem Bericht über Lance Armstrong: Es handele sich bei den aufgedeckten Fakten um „das am meisten ausgeklügelte, professionellste und erfolgreichste Dopingprogramm, das der Sport jemals gesehen hat." Das Urteil dieses Schauspiels: lebenslange Sperre für Armstrong, zudem die Aberkennung aller Siege seit dem 1. August 1998.
In seiner Welt hält er sich für unbesiegbar
Wie verschoben seine Selbstwahrnehmung ist, zeigte sich im Januar 2013. Vor einem Millionenpublikum und bei Talk-Gigantin Oprah Winfrey zu Besuch, gab Lance Armstrong öffentlich zu, gedopt zu haben. Er entlarvte sich selbst als Lügner, vor all den Menschen, die sich an ihm orientierten, da er so spektakulär den Krebs besiegt hatte. Kurz nach diesem Interview zeigte sich Armstrong aber per Bild auf Twitter. Es zeigt ihn, auf seinem Sofa liegend, an der Wand sieben Gelbe Trikots, eines für jeden seiner Tour-Siege. „Bin wieder in Austin und hänge ab", schreibt er dazu als Kommentar. In seiner Welt gehören ihm die Titel noch, in seiner Welt hält er sich für unbesiegbar. Armstrongs Regierungsstil war stets herrisch und arrogant, seine Hybris und Herrschsucht sprudelten förmlich aus ihm heraus. Denn bis zu seiner völligen Enttarnung gelang es ihm stets, alle Dinge so zu lenken, wie er sie gerne hätte. Seinen Willen bekam er immer, bei Teammitgliedern, seinen Begleitern und Unterstützern. Alle diejenigen, die sich trauten kritisch zu berichten oder zu recherchieren, wurden mittels einer Klagewelle zum Schweigen gebracht. Zudem profitierte er von Kontakten in die Politik, sodass eine Ermittlung – sein US-Postal-Team war eine staatliche Organisation – eingestellt wurde, ehe die Usada übernahm und ihr Urteil sprach.
Armstrong war irgendwann aber auf sich alleine gestellt. Sponsoren sprangen ab, dadurch fielen Einnahmen in Höhe von 75 Millionen Dollar weg. Selbst seine Krebsstiftung musste er verlassen. Da er für US Postal fuhr, war auch noch ein Schadensersatzprozess anhängig. Nachdem er 2018 fünf Millionen Dollar an die Regierung zahlte, wurde dieser eingestellt. Geblieben sind ihm, sofern seinen Aussagen Glauben geschenkt werden kann, weitere 100 Millionen Dollar. Macur besuchte Armstrong gerade an diesem Tag, an dem er seine Villa in Austin, die mit der um 50 Meter verschobenen Eiche, aufgeben musste, da er sie sich nicht mehr leisten konnte. Nach eigener Aussage erlebte die Autorin einen trotzigen aber kämpferischen Mann, der nichts als gebrochen war. Denn er erhielt eine lebenslange Sperre für alle Veranstaltungen in den olympischen Sportarten, was für ihn einem „Todesurteil" gleichkommt. Lance Armstrong bekommt nicht mehr was er will, für einen Mann mit einem solchen Ego ist das wohl die härteste Strafe.