Die sozialen und gesell-schaftlichen Entwicklungen müssten eigentlich den Linken zugutekommen. Inzwischen sind klassische linke Themen wie Enteignung wieder auf der Agenda. Warum profitiert die Partei nicht davon?
Ist es wieder da, das Gespenst, das in Europa umgeht – oder war es nur eine Eintagsfliege? Als Juso-Chef Kevin Kühnert mit seiner Kapitalismuskritik und Worten wie dem von der Enteignung oder Kollektivierung an die Öffentlichkeit trat, war die Aufregung groß. Am größten vielleicht sogar in der eigenen Partei. Wie kann der Jungspund ausgerechnet ein paar Tage vor einer Wahl dieses Fass aufmachen, echauffierten sich die Strategen, die dabei waren, für die SPD ein noch erträgliches Ergebnis bei der Europawahl zu erkämpfen.
Immerhin war das Thema gesetzt. Dass alle aufhorchten, weil es ausgerechnet der Chef der SPD-Jugendorganisation gebrauchte, hat auch Teile der Linken irritiert, die dergleichen schon lange in ihrem Forderungskatalog haben, ohne solche Diskussionen ausgelöst zu haben. Lob für den kühnen Kühnert gab’s von Katja Kippping via „taz": „Demokratischer Sozialismus heißt für uns, die Eigentumsfrage zu stellen. Das tut Kevin Kühnert, und das ist erfreulich." Nicht wenige sahen darin zumindest eine Bewegung an der Türklinke, um eben jene Tür zu Rot-Rot(-Grün?) im Bund ein wenig zu öffnen. Erst recht, als jemand wie Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, auf Twitter bekannte: „Als undogmatischer Reformsozialist vertrat und vertrete ich viele andere Auffassungen. Aber eine Kontroverse über den Kapitalismus in Zeiten von Globalisierung & Digitalisierung muss möglich sein." Jener Michael Roth, der vor wenigen Tagen zusammen mit der ehemaligen nordrhein-westfälischen Familienministerin Christina Kaufmann die erste Bewerbung für die wohl demnächst erste SPD-Doppelspitze abgegeben hat.
Abgesehen von den üblicherweise erwartbaren Reflexen beim „S-Wort" hat sich in etlichen Debattenbeiträgen ein Grundtenor durchgezogen, den der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher, zusammenfasst: „Herr Kühnert trifft zu Recht einen Nerv", um gleich zu ergänzen, dass ein Zurück zum Sozialismus keine besonders gute Antwort sein könne.
Linke-Chefin lobt Kevin Kühnert
Der „Nerv", der da getroffen wird, sind Entwicklungen, die auch der Einseitigkeit unverdächtige nationale und internationale Studien schon seit Jahren zeigen: bereits bestehende Schieflagen, die sich weiter verfestigen oder sogar absehbar verschärfen: Niedriglohnsektor, der rechenbar das Risiko der Altersarmut verschärft, überhaupt Armutsrisiko auch von Kindern trotz boomender Wirtschaft, unterfinanzierte öffentliche Daseinsvorsorge.
Das sichtbarste Beispiel ist der Bereich bezahlbarer Wohnungen. Sozialverbände haben schon vor Jahren eindringlich vor den Folgen gewarnt, wenn sozialer Wohnungsbau praktisch eingestellt wird. Die Warnungen sind verhallt, die Folge ist jetzt die in Berlin geführte Debatte über Notbremsen, die noch vor einem Jahr völlig unvorstellbar war. Die Vermutung liegt nahe, es könne in anderen Bereichen mit ähnlicher Entwicklung absehbar auch ein Punkt erreicht werden, an dem über drastische Maßnahmen diskutiert wird und Vorschläge mit Instrumenten aus sozialistischen Werkzeugkästen auftauchen.
Diesen Werkzeugkasten trägt Die Linke seit ihrer Gründung mit sich umher. Und weil einigermaßen unbestritten ist, dass sich die Verhältnisse unter neoliberalen Vorzeichen in eine bestimmte Richtung entwickelt haben, sollte man eigentlich erwarten, dass eine linke Partei deutlich stärker dastehen müsste, als es derzeit der Fall ist. Dazu kommt die Frage: Warum profitiert Die Linke nicht von den Verlusten der SPD?
Bei der Europawahl verloren beide Parteien quasi im Gleichschritt deutlich, kamen selbst zusammen nur noch auf gerade mal etwas mehr als ein Fünftel der Wählerstimmen (SPD: 15,8 Prozent, Die Linke: 5,5 Prozent, beide zusammen minus 13,4). Ähnlich der jüngste Deutschlandtrend mit der SPD bei 13, Die Linke bei acht.
Jan Korte gab schon vor einem Jahr in einem selbstkritischen Gastbeitrag für „Die Zeit" einen Hinweis: „Viele Linke haben keinen Zugang mehr zu den Menschen, die sich an ihren – schlecht bezahlten – Arbeitsplatz klammern, um irgendwie durchzukommen". Der Linken-Bundestagsabgeordnete gehört dem „Forum demokratischer Sozialismus" an. Damit hebt auch er vor allem auf Verhältnisse „an sich" ab, also die einigermaßen objektiv greifbaren Verhältnisse.
Daneben scheint sich aber auch ein Unbehagen an kapitalistischer Markwirtschaft auszubreiten, das darüber hinausgeht. Das Wohlstandsversprechen ist brüchig geworden, „die Märkte" sind anonym, die Klimadebatte legt nahe, dass ein Wirtschaftssystem, das immer nur auf ein Mehr, auf Wachstum aus ist, Grenzen erreicht, der technologische Fortschritt löst ebenso viele Ängste aus wie er genutzte Erleichterung bringt. Diesen Befindlichkeiten tragen materielle politische Ansätze wie höherer Mindestlohn oder ein bedingungsloses Grundeinkommen nur bedingt Rechnung.
Unbehagen an Verhältnissen
Dass sich etwas verändert, mag man am Beispiel von Tarifauseinandersetzungen ablesen, in denen höhere Löhne und Gehälter zwar nach wie vor wichtig, aber längst nicht mehr das einzig Wichtige für die Beschäftigten sind. Mehr Personal, damit sich die Beschäftigten der eigentlichen Aufgabe, nämlich der Pflege der Patienten, widmen können, fordert etwa das Pflegepersonal in Kliniken. Nicht viel anders in Schulen und Kitas, also dort, wo es um Menschen geht.
Natürlich stehen entsprechende Forderungen in linken Programmen, ebenso wie Konzepte zur Armutsbekämpfung. Nur fehlt es offenbar an Vertrauen in die Durchsetzbarkeit. Erinnerungen an den Mindestlohn werden wach. Der wäre ohne die Linke nicht durchgesetzt worden, aber so, wie es ihn gibt, ist er ein Fortschritt, von dem eigentlich klar ist, dass es ein halbherziger Fortschritt ist, und wo viele ahnen, dass eine bloße Forderung nach Erhöhung grundlegende Probleme allenfalls abmildert, nicht löst.
Im Unbehagen schwingt mit, dass es grundlegendere Veränderungen geben muss. Zugleich weiß jeder um Ängste, die Veränderungen mit sich bringen. Das ist der eine Spagat. Der andere ist die Frage, ob die klassischerweise als „sozialistisch" bekannten Antworten zu den aktuellen Herausforderungen passen. Da beschleicht viele nicht nur die alte Aversion gegen alles, was sich sozialistisch nennt und somit wahlweise irgendwie bedrohlich ist oder ohnehin nicht funktioniert. Es ist auch das ungute Gefühl, dass solche Antworten den aktuellen Herausforderungen nicht gerecht werden.
Dabei mangelt es den Linken nicht an Ideen. Eher gibt es zu viele, die die Partei noch nicht klar unter einen Hut gebracht hat, den sie als Markenzeichen aufsetzen könnte. Ihre Kernthemen jedenfalls sind aktueller denn je. Und Mitstreiter für eine linke Politik sollte es auch geben, wenn auch DGB-Chef Reiner Hoffmann erklärt: „Ich plädiere sehr für eine mutige Zukunftsdebatte über ökologische Herausforderungen und die Verteilung des Reichtums." Und so ist auch die Klimadebatte, die derzeit Konjunktur hat, letztlich mit eine Frage an das Wirtschaftssystem.
Mit dem anderen linken Markenkern, der Friedenspolitik, ist die Partei bislang nicht dauerhaft durchgedrungen. Die Formel: Friedenspolitik = Stopp der Rüstungsexporte greift zu kurz.
Das Thema selbst wird Europa und Deutschland in absehbarer Zukunft mehr beschäftigen, als allen lieb sein dürfte. Antworten in der höchst komplexen Gemengelage von Interessen können nicht einfach sein, populistische Verkürzungen verbieten sich aber beim Ernst dieses Themas. Vor der Herausforderung, ein überzeugendes Konzept verständlich zu präsentieren, stehen die Linken nicht allein.