In Deutschland sind Regierungsbündnisse mit den Rechten noch tabu. Unsere Nachbarn in Österreich sehen das ganz anders: Die „bösen Buben" aus dem Ibiza-Video sind schließlich weg. Und einer scheint ohnehin schon als Gewinner der Neuwahlen im September festzustehen: Sebastian Kurz – zum zweiten Mal Kanzler?
Es hatte nicht lange gedauert, bis Österreich seinem Charme erlegen war: Spätestens, als Sebastian Kurz erste Schlagzeilen im Ausland machte, war es so weit. Denn kaum etwas schmeichelt der österreichischen Volksseele mehr als Präsenz auf internationaler Ebene. Beim Fußball klappt das nicht so recht, die Streicheleinheiten im Skisport sind nur saisonal. Der Kulturbetrieb mit Mozart und Co. ist ein Nischenprogramm und internationale Stars österreichischer Herkunft wie Arnold Schwarzenegger entziehen sich zuweilen der Vereinnahmung.
Aktuell ist aber wieder Ebbe in Sachen internationale Bühne. Viel ist politisch passiert in den letzten Monaten: Ibiza-Gate, Zerfall der Regierung und Kurz’ Sturz als Kanzler. Jetzt hat Österreich erstmals in der Geschichte eine Expertenregierung, ebenso erstmals herrscht so ganz ohne Regierungskoalition und Regierungsmehrheit im Parlament das freie Spiel der Kräfte. Von einer Staatskrise war bei den einen die Rede, als die Regierung – dritte Premiere – in einem Misstrauensvotum fiel; andere sahen darin hingegen eher einen Crashkurs in Sachen Demokratie.
Im September finden nun Neuwahlen statt. Der Wahlkampf ist im Anrollen. Aber wer sich eine grundlegende Neuausrichtung der österreichischen Politik erwartet, liegt wohl daneben: Kurz dominiert nach wie vor die Berichterstattung in den Medien, als wäre er nach wie vor Kanzler. Er agiert auch so. Eine Wiederwahl im September scheint ihm aus heutiger Sicht praktisch sicher. Denn auch, wenn Sebastian Kurz momentan nicht mehr ist als ein mandatsloser Parteichef der konservativen ÖVP, ist seine Popularität ungebrochen. Und für die ÖVP, die nach einem jahrzehntelangen Abstieg mit Kurz wieder Wahlen gewinnt, ist er schlicht eines: alternativlos – bei allen auch parteiinternen Widerständen.
Kurz war das Ass im Ärmel der ÖVP, als er von dieser 2017 zum Spitzenkandidaten gekürt wurde. Ein smarter Schwiegermuttertraum, der als damaliger Außenminister in Kombination mit den Großen der Welt dem österreichischen Publikum Wichtigkeit vermittelte. Kurz ist ein Verkaufstalent. Sein erster Coup: Im Wahlkampf gab der Parteikarrierist sehr erfolgreich den Quereinsteiger. Nach der Wahl dann koalierte die ÖVP mit der FPÖ. 2017 war das.
Die Nazi-Rhetorik der FPÖ: Alles nur „Einzelfälle"?
Zwei Jahre später stand Kurz im Mai 2019 am Pult des Kanzleramts vor der Presse, kündigte der FPÖ die Koalition auf und Neuwahlen an – wenig später stolperte er über einen Misstrauensantrag im Parlament, eingebracht von den Sozialdemokraten (SPÖ). Gerade eben war das Ibiza-Video veröffentlicht worden: In ihm plaudern FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz Christian Strache und der Chef der FPÖ-Abgeordneten im Nationalrat, Klub-Obmann John Gudenus, in Unterhemden aus dem Nähkästchen. Es geht um die Verschleierung von Parteispenden, die Beeinflussung von Medien und die Erpressung politischer Gegner, die Strache in dem Video pauschal als „Schneebrunzer" bezeichnet – also als jemanden, der in den Schnee pinkelt, ein Prahler ohne Hintergrund. Skandale, nebenbei bemerkt, die auch an der ÖVP nicht spurlos vorbeigehen sollten. Vor allem, was Parteispenden über Vereine am Fiskus vorbei angeht.
Viel habe er sich gefallen lassen müssen, klagte Kurz im Mai nach der Veröffentlichung der Videos. Viel habe er aushalten müssen. Zugleich verwies er auf die „erfolgreiche Arbeit" der Koalition. Auf dem Ballhausplatz im Regierungsviertel Wiens hatten sich zu diesem Zeitpunkt Zehntausende Menschen eingefunden, um den Rücktritt einer Regierung herbeizupfeifen, die seit ihrem Amtsantritt bei Teilen der Gesellschaft nur Kopfschütteln ausgelöst hatte. Später wurde gefeiert.
Es war in Wien, wo man sich an den immer wieder vorkommenden nazirhetorischen Ausfällen der FPÖ und FPÖ-naher Gruppen störte. Woanders nahm ein großer Teil der österreichischen Gesellschaft diese nicht als Serie, sondern als „Einzelfälle" wahr und ließ sich davon nicht tangieren. Auch die Affäre um die Nähe zwischen der neonazistischen Identitären Bewegung zu FPÖ-Strukturen fiel bei vielen nicht ins Gewicht – und dass der Identitären-Chef Kontakte zum Attentäter von Christchurch hatte: geschenkt. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Es war die schiere Masse an Skandalen, Skandälchen und Affären, die auch ein interessiertes Publikum schlicht überforderte. In Wien demonstrierten jeden Donnerstag Tausende Menschen. Zugleich aber warf die Regierung teils gezielt Nebelkerzen, um abzulenken. So war etwa der polemische Wirbel um die Rauchergesetze lauter als die seriöse Aufarbeitung eines komplizierten Skandals beim Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung.
Message-Control lautet das Schlagwort: Noch nie hat eine Regierung so gezielte Direktiven herausgegeben, wer aus ihren Rängen was gegenüber den Medien sagen darf.
Hinzu kam eine eklatante Schwäche der Opposition: Die Sozialdemokratie verbeißt sich bis heute in internen Konflikten, die Grünen schafften es 2017 nicht ins Parlament. Bleiben die NEOS, eine liberale Kleinpartei mit Nähe zum liberalen Flügel der ÖVP, und die Liste Jetzt, ein Spaltprodukt der Grünen, die sich zuletzt aber auch auflöste. ÖVP und FPÖ hatten damit die Themenhoheit. Und bestimmten so das Lieblingsthema von Kurz: Migration und Flüchtlingsrouten, die es zu schließen gelte.
In der ÖVP regt sich Widerspruch gegen Kurz
Hier war der Kanzler auf den Kurs der FPÖ eingeschwenkt, wenn auch in abgeschwächter Wortwahl. Ebenso, was das Thema EU angeht: Als Kurz im EU-Wahlkampf plötzlich die Streichung von EU-Verordnungen forderte und die Bevormundung durch Brüssel geißelte, kam das bei den Wählern gut an. Immerhin konnte die ÖVP gegenüber der vorangegangenen EU-Wahl 7,5 Prozent und gegenüber der Nationalratswahl 2017 drei Prozent zulegen.
Die Anbiederung an die äußerste Rechte bei den Themen Migration und EU aber hat in der ÖVP selbst Spuren hinterlassen und Widerspruch ausgelöst. Bisheriger Höhepunkt war die Veröffentlichung eines Buchs von Kurz’ Vorgänger als ÖVP-Chef, Reinhold Mitterlehner. Der vielsagende Titel: „Haltung: Flagge zeigen in Leben und Politik". Das Buch ist die Abrechnung eines Polit-Dinosauriers mit seinem Nachfolger und war binnen kurzer Zeit vergriffen. Mitterlehner zeichnet das Bild eines Putsches in der Partei, rechnet mit populistischen Strömungen ab, kritisiert die Umgehung des Parlaments und geht mit der Quasi-Abschaffung der Sozialpartnerschaft hart ins Gericht.
Gerade Letzteres hatte Kurz massiv vorangetrieben. Vor seiner Zeit war es in Österreich ungeschriebenes Gesetz, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter in den Gesetzgebungsprozess mit einzubeziehen, bevor es im Parlament zu Abstimmungen kam. Das Ergebnis war dann – positiv betrachtet – ein Kompromiss. Kritiker sprachen hingegen von intransparentem Schachern unter Bonzen und Gewerkschaftern. Dazu kommt, dass es jahrzehntelang immer wieder Koalitionen zwischen der ÖVP und der SPÖ gegeben hat – mit der Folge, dass die politischen Strukturen verkrusteten. Da war es populär, mit dem Versprechen anzutreten, mit diesem Groß-Koalitions-Reflex zu brechen – und Kurz war entsprechend erfolgreich.
Eine Koalition mit der SPÖ nach der Wahl im September ist unwahrscheinlich – auch, wenn die angesichts ihrer Schwäche vermutlich billig zu haben wäre. Einen Einzug ins Parlament werden aller Wahrscheinlichkeit nach die FPÖ unter ihrem neuen Parteichef Norbert Hofer, die Grünen und die liberalen NEOS schaffen. Dass sich die Grünen als Mehrheitsbeschaffer für die ÖVP unter Kurz hergeben, scheint kaum denkbar. Mit den NEOS alleine wird es wohl kaum reichen. Bleibt die FPÖ.
Inzwischen sind dort die „bösen Buben von Ibiza" abgetreten. Strache hat seinen Parteivorsitz abgegeben, sein Kumpel Gudenus ist zurückgetreten und auf Tauchstation. Der neue am Ruder ist Norbert Hofer. Weniger scharf im Ton als Strache, in der Sache allerdings ebenso hart. Das zieht bei der Wählerschaft. Hofer ist durchaus kein Unbekannter: Er war Gegenkandidat des amtierenden Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in der Stichwahl 2016. Für den wurde es damals recht knapp – Hofer schaffte bei hoher Wahlbeteiligung satte 46 Prozent. Eins hat das freie Spiel der Kräfte jedenfalls bisher gezeigt: Ein Flirt der FPÖ mit der ÖVP ist durchaus erkennbar. Und auch Kurz hat immer wieder betont, dass er eigentlich mit der inhaltlichen Arbeit der FPÖ sehr zufrieden war.