Experimentelles Reisen bricht alte Strukturen auf. Es macht enorm viel Spaß und erweitert den persönlichen Horizont. Ein Selbstversuch.
Rita würfelt eine Eins: „Sushi mit Hähnchenfleisch?" Das erste Gericht auf der Speisekarte scheint bei meiner Schwester nicht unbedingt den Appetit anzuregen. Meine erwürfelte Drei liest sich schon besser: Sushiwrap gefüllt mit Lachs. Das Ergebnis auf den Tellern überrascht uns beide. Es schmeckt köstlich! Wir sitzen in einem Sushi-Bistro am Barbarossaplatz in Würzburg.
In diesem Urlaub ist alles anders. Wir haben kein Hotel gebucht, keinen Reiseführer gekauft, keine Aktivitäten geplant. Wir überlassen alles dem Zufall. Zu dieser Idee inspirierte uns der französische Journalist Henry Joël. Seiner Meinung nach lernt man ein Land oder eine Stadt anders kennen, wenn man nicht auf die Sehenswürdigkeiten fixiert ist, sondern die Umgebung nach dem Zufallsprinzip oder nach willkürlich auferlegten Beschränkungen entdeckt. In den 90er-Jahren hat er dazu eine Reihe von Ideen in einem „Lonley Planet"-Band veröffentlicht. Seine Vorschläge: Ziehe auf dem Stadtplan von der ersten Straße, die mit A beginnt, eine Linie bis zur letzten mit Z! Laufe entlang dieser Linie!
Oder: Nimm den Zug um 12.12 Uhr, steige an der zwölften Station aus, schlafe im Hotel in einem Zimmer mit der Nummer zwölf und so weiter. Auf der „Monopoly-Reise" folgt man dem Würfel auf dem Spielbrett, indem man Straßen, Bahnhöfe, Gefängnisse und das Wasserwerk einer Stadt aufsucht. Auf der „Brotkrümel-Reise" besucht man die Lieblingsplätze eines Passanten.
Wir würfeln eine Sechs! Also bummeln wir durch die Stadt bis wir das sechste Hotel erreicht haben. Der natürliche Menschenstrom spült uns zum Marktplatz wie in ein großes Becken, in dem Menschen wie Ameisen umherwuseln. Vor uns ragt die Marienkapelle mit ihrem rot-weißen Schnörkelturm in den Himmel, als überwache sie das Geschehen zu ihren Füßen. Wir vertrauen weiter auf den Fluss der Intuition und lassen uns im Nachmittagsgewühl Richtung Main schwemmen.
Verfolgung eines wildfremden Pärchens
Anscheinend trifft sich halb Würzburg auf der Alten Mainbrücke. Hier trinkt man nicht unter der Brücke sondern obenauf. Dabei plauschen die Einheimischen mit Freunden oder schauen dem Wasserrad der alten Mainmühle bei der Arbeit zu, das 2.000 Haushalte mit Strom versorgt. Bald nehmen wir auch einen Brückenkaktus-Cocktail und prosten den zwölf steinernen Brückenheiligen und der Marienburg zu, die auf der anderen Seite wie eine stolze Matrone am Hang sitzt. Ihre Anziehungskraft bringt uns hinauf bis zur Burg, wo man eine fantastische Sicht auf die Stadt hat. Im Garten lassen sich Mädchen in Konfirmationskleidern von ihren Eltern fotografieren. Im Burginneren folgen Touristengruppen brav ihrem Guide, trotz brütender Hitze. Wir sind froh, nicht dazuzugehören und hocken uns ins Gras unter einen schattigen Baum. Es ist schon 4 Uhr am Nachmittag und wir wissen immer noch nicht, wo wir übernachten werden. Etwas unruhig bin ich schon. Auf dieser Mainseite scheinen die Hotels nicht wie die Weinstöcke aus dem Boden zu sprießen. Deshalb stiefeln wir wieder hinunter zur anderen Seite. Tatsächlich bekommen wir im sechsten Haus noch das letzte freie Zimmer. Am Tag zuvor hat ein Marathon stattgefunden, deshalb ist das Angebot knapp, sagt die Empfangsmitarbeiterin.
Am Abend folgen wir einfach einem wildfremden Pärchen – sie im beigefarbenen Rock, er in Jeansjacke – vielleicht gehen sie ja in ein gutes Restaurant. Hin und wieder bleiben sie stehen, schauen sich die Schaufensterauslagen an. Wir halten etwas Abstand und kommen uns vor wie Detektive bei der Verfolgung Tatverdächtiger. In diesem Moment ist es egal, in welcher Stadt wir uns befinden, was wir sehen. Ein kribbelndes Gefühl macht sich breit, dass ich zuletzt als Jugendliche verspürt habe, als man noch öfter dem natürlichen Drang, verrückte Dinge zu tun, nachgab. Leider trennt sich der beige Rock von der Jeansjacke kurz vorm Hauptbahnhof. Wir folgen weiter dem Mann und kommen dabei an einem gemütlichen Lokal vorbei. Die Verfolgung hat sich gelohnt! Das erwürfelte Landhuhn schmeckt gut, der fränkische Sauerbraten ebenso.
Am nächsten Morgen kündigt sich der 1. Mai mit Blasmusik und Kirchengeläut an. An diesem Tag erkunden wir das erwürfelte Planquadrat F8, ein Gebiet auf der anderen Mainseite. Durch eine Grünanlage geht es am Wasser entlang zum Polizei-Sportplatz. Nebenan sitzen Jugendliche auf einem Kasten Bier, einer kickt den Ball ohne große Motivation hin und her, als würde er auf einen Flaschenöffner warten. Wieder auf der Straße, kommen wir an einem Zirkuszelt vorbei. Davor steht ein Thron, geschmückt mit Totenschädeln. Rita klettert hinauf und posiert für ein Foto. Aus unerklärlichen Gründen blutet sie am Finger, als sie wieder hinuntersteigt. Ein merkwürdiger Zufall, dass es sich um den „Zirkus des Horrors" handelt, der hier gerade aufgebaut wird. Im Zelt haben junge Männer schon eine Lounge errichtet und mit Spinnweben dekoriert. Leider eröffnet er erst, wenn unser Urlaub vorbei ist.
Der Zufall kann die Filterblase sprengen
Als es anfängt zu regnen, flüchten wir spontan ins Kino. Dort beginnt gerade der Animationsfilm „Boss Baby". Später sind wir uns einig: Geplant wären wir wohl nie in den Genuss dieses witzigen Films gekommen – und zu einer wichtigen Erkenntnis: Der Zufall kann die Filterblase sprengen, in der wir uns befinden. Diesen eingeschränkten Handlungsspielraum, der nur erwartbare Erlebnisse zulässt, gibt es nicht nur online als sogenannte Echokammer. Auch offline lassen wir oft nur das an uns heran, was unseren Vorlieben entspricht und halten fern, was unsere Vorurteile widerlegt. Schade, dass man im Alltag und selbst im Urlaub dem Zufall so wenig Raum gibt. Dabei kann er womöglich ein wichtiger Lebensbegleiter sein und uns geistig jung halten. Sind es nicht am ehesten die ungeplanten, zufälligen Begegnungen, an die man sich noch Jahrzehnte später erinnert? Den Bekannten, den ich in Mexiko traf, der vergessene Reisepass am Flughafen, die Überraschungsfeier zum Geburtstag?
Mit diesen Gedanken betreten wir den Kulturspeicher gleich neben dem Kino. Eine Sonderausstellung zeigt Kreise, Rechtecke und Quadrate. Es sollen grafische Kunstwerke sein. Uns erinnern sie zu sehr an den Mathematikunterricht, als dass sie uns begeistern könnten. Aber immerhin piksen sie in die Filterblase. Und der Pflaumenkuchen im Museumscafé mit Blick auf den Main bleibt auf jeden Fall in guter Erinnerung.
Am nächsten Tag regnet es Bindfäden, sodass wir ein kurzes Shop-Hopping einlegen. „Dass überhaupt jemand kommt bei diesem Wetter!", wundert sich der Inhaber von Zeychen und Wunder, ein großer Schlaks mit Brille. Neben viel Krimskrams verkauft er originelle Geschenke wie eine Geldbörse verkleidet als Zahnpastatube oder einen Bildschirmschoner, auf dem Bauarbeiter minutengenau die Uhrzeit als Baustelle bearbeiten. In der Sanderstraße reiht sich ein nettes Geschäft ans nächste. Der Laden Unverpackt gehört Susanne Waldmann. Sie hat erst seit Kurzem geöffnet und freut sich auch über Gespräche mit potenziellen Kunden. Getreide, Nüsse, Mehl, Geschirrspülmittel zapft man aus großen Behältern in selbst mitgebrachte Flaschen oder Dosen – wie früher bei Tante Emma.
Einfach in die nächste Straßenbahn steigen
Nachmittags entscheiden wir uns für einen „Endhaltestellen-Ausflug". Wir steigen in die nächste Straßenbahn die kommt, fahren bis zur Endhaltestelle Heuchelhof und erkunden die Umgebung. Der Stadtteil ist der jüngste Würzburgs und gleichzeitig der am längsten besiedelte. Eine keltisch anmutende Sonnenuhr soll an frühere Zeiten erinnern, als hier die ersten Siedler lebten. Ganz in der Nähe liegt ein 200 Jahre alter Gutshof mit Windrad, Restaurant, Sozialstation und einer Kirche. Zurück laufen wir ein Stück entlang der „Klima-Allee". Hier hat die bayerische Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau eine Reihe ausländischer Baumsorten testweise anpflanzen lassen – vom nordamerikanischen Amberbaum bis zur Mongolischen Linde. Da die einheimischen Sorten immer anfälliger werden, sucht man so den Stadtbaum der Zukunft, der Luftverschmutzung genauso wie längere Trockenperioden aushält. Würzburg ist eine von drei bayerischen Städten, die sich an diesem Projekt mit Namen „Stadtgrün 2021" beteiligten. Sowieso erscheint uns die Stadt sehr grün mit vielen Parkanlagen. Besonders schön ist der Hofgarten am Schloss, den uns eine Verkäuferin aus einem Designgeschäft an der Residenz als ihren Lieblingsplatz empfiehlt. Dort schlendern wir auf Kieswegen zwischen bunten Tulpenbeeten und romantischen Pavillons. Neben dem Hofkräutergarten entdecken wir – eingesperrt hinter einer Glasfront – die Geschwister der Brückenheiligen. Sie sehen aus, als hätten sie zu viel Wein getrunken und wären mehrmals gestürzt. Der einen Skulptur fehlt der rechte Arm, der anderen ein Stück vom Kinn. Womöglich warten sie hier auf ihre Restauration.
Zum Abschied zieht es uns nochmal zu ihren Kollegen auf die Alte Mainbrücke. Dort wuseln wieder viele Menschen. Bei einem letzten Brückenkaktus fällt uns ein, dass wir noch keine Postkarte geschrieben haben. Gehört ja irgendwie dazu, trotz Digitalzeitalter. Zur Abwechslung schreiben wir nicht unseren Lieben daheim, sondern einem Einheimischen aus Würzburg. Wir stecken den Finger ins Daumenkino eines Telefonbuchs: Karl wird sich noch lange wundern, wer wohl die „Experimental-Reisenden" sind, die ihm aus Würzburg eine so merkwürdige Postkarte schrieben.
Auch wenn uns auf dieser Reise manche Attraktion entging, haben wir nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Ohne Planung und dem Abklappern von Programmpunkten reist man viel entspannter und erlebt die Momente intensiver.
Psychologen sagen, neue Erfahrungen bleiben länger im Gedächtnis. Also werden wir uns an Würzburg wohl länger erinnern, als an jede gut organisierte andere Reise. Und wir wissen jetzt: egal, wohin man reist, Besonderes erlebt man überall – sofern man dem Zufall vertraut.