Eine weite Kulturlandschaft wie aus dem Bilderbuch: Nur einen Katzensprung von Berlin entfernt, laufen die Uhren gleich langsamer. Angetrieben von einer Pferdestärke reisen Besucher mit dem Planwagen durch die Uckermark.
Gerade hat hier jemand scheinbar die Zeit angehalten. Nein, sie wurde zurückgedreht. Der Ameisenhaufen namens Stadt ist verschwunden, all die vielen Menschen, all die hektische Geschäftigkeit der Moderne. Keine Hochhäuser, keine Einkaufszentren, kein Verkehr und keine Musik mehr aus tausendundeinem Lautsprecher. Wer in der Uckermark ankommt, taucht ein in eine ganz andere, viel natürlichere Landschaft. Und in eine Geräuschkulisse, in der klappernde Störche und der in Kastanienalleen und Pappelwäldchen rauschende Wind die Tonspuren liefern. Man kann die Uckermark im eigenen Fahrzeug erkunden – und sich zuerst über Geschwindigkeitsbegrenzungen ärgern und dann über Kopfsteinpflasterstraßen, die einen durchschütteln und die Stoßdämpfer des Autos strapazieren. Oder, das ist die bessere Alternative, man kann sie erleben, wie sie sich gibt: langsam. Wer Lust hat auf ein Rendezvous mit der Einsamkeit und die nötige Muße mitbringt, entdeckt die ländliche Region nördlich von Berlin mit Pferd und Planwagen. Eine Woche lang trottet man dann im Schneckentempo über alte Feldwege und kaum befahrene Sträßchen, vorbei an Herrensitzen und Backsteinkirchen, angetrieben von nur einem PS. Mit dem Fahrrad wäre man zwar deutlich schneller, und geübte Wanderer schaffen ein paar Kilometer mehr am Tag. Doch gerade hier gilt: Der Weg ist das Ziel. Der Stress kann zuhause bleiben.
Die Nervosität indes reist mit – glücklicherweise aber nur am ersten Tag. „Keine Angst: Sie brauchen null Erfahrung mit Pferden", hatte die Chefin des Caravanverleihs am Telefon die letzten Bedenken zerstreut – oder es zumindest versucht. Denn immer noch nimmt man sein neues Heim samt Zugtier mit einer Portion Unsicherheit in Empfang. Der Planwagen ist etwa so groß wie ein Campingmobil und bietet mit einem Stockbett und dem Tisch samt zwei Bänken, die sich zu einem Doppelbett umbauen lassen, Platz für vier Personen. Gasherd, Kochgeschirr, Licht von einer Zwölf-Volt-Batterie, Bettwäsche, Decken und ein Wassertank: Die Organisatoren haben an alles Wichtige gedacht.
Die Pferde sind ruhig und gutmütig
Mit exakter Routenbeschreibung, Karte und Satellitenbildern wurde eine „Sieben-Seen-Tour" ausgearbeitet, die am interessantesten klingt (auch eine kulturhistorische Reise und eine naturkundliche Strecke sind im Angebot). Doch wo übernachten das Pferd und die Passagiere im Planwagen? „Öffentliche Campingplätze gibt es hier nur wenige. Doch wir haben an vielen Stellen in der Region Grundstücke gepachtet oder Arrangements mit anderen Eigentümern getroffen", sagt die Besitzerin des Caravanverleihs. So sind die Schlafplätze – am Waldrand oder auf einer Wiese, auf einer Lichtung oder direkt am See – genau beschrieben. Die Idylle ist meist perfekt, die Zivilisation weit weg. Und auch die Toiletten: „Natur pur", heißt es bei der Einweisung mit einem Augenzwinkern, „ein Klappspaten ist im Wagen."
Dann führt Nadin Halser einen in den Stall. „Unsere Pferde sind Kaltblüter. Diese Tiere sind gutmütig und nicht aus der Ruhe zu bringen. Aber auch gelehrig und clever: Mathilde hat eure Tour schon oft gemacht und wird den Weg fast alleine finden." Mathilde: So heißt unsere Begleiterin für die nächsten sieben Tage, die schon kräftig am Strick zieht. Eine Dame von imposanter Größe und mächtigem Gewicht, aber angeblich doch recht zartem Gemüt: „Wenn man sie mit einem halben Eimer Kraftfutter besticht, lässt sie sich ohne Murren vor den Planwagen spannen." Wie das geht, kann man als Laie tatsächlich lernen – erst in der Theorie, dann in der Praxis. Nadin (in der Uckermark ist man schnell per Du) bringt einem mit viel Geduld auch bei, wie man den Strick zum Anbinden richtig knotet und wie man Mathilde striegelt und ihre Hufe säubert.
Der erste echte Test ist die Fahrt zum Rastplatz Nummer eins, einer Wiese direkt an einem See mit kleiner Badestelle. Netterweise kommt Nadin mit uns Novizen mit. Und verspricht: „Ich schaue jeden Tag mal nach euch und dem Pferd. Doch für Notfälle gebe ich euch auch noch meine Handynummer. Gute Nacht!" Nach dem schnellen Gericht Spaghetti mit Tomatensoße kuschelt man sich dann rasch ins Bett. Mathilde funktioniert derweil, das stellt sich am nächsten Morgen heraus, nicht nur als vor Kraft strotzender Antrieb, sondern auch als verlässlicher Wecker: Weil sich Planwagen und Pferd die Koppel teilen, klopft sie schon früh am Morgen an die Wagentür und mahnt die Langschläfer: Zeit fürs Frühstück!
Ohne Gegenverkehr durch die Lande
Mit gespitzten Ohren (Mathildes Signal, dass alles in Ordnung ist, auch wenn sie nicht immer den saftigen Löwenzahn fressen darf, der am Wegesrand wächst) zieht sie den Planwagen munter durch eine Landschaft ohne Gegenverkehr. Das Tempo wird auf ein natürliches Maß zurückgedreht, und so sieht man plötzlich all die Details, die sonst im Rausch der modernen Geschwindigkeit verloren gegangen wären. In einem Pappelwäldchen sprießt eine Kolonie Schirmpilze – das perfekte Essen, während Mathilde ihren Hafer mampft. In den Seen, vor bunten Bootshäuschen, springen im Abendlicht die Fische. Und wenn man die Wasserburg von Gerswalde ansteuert oder mit klappernden Hufen die Kastanienallee zu Schloss Kröchlendorff hinauffährt, fühlt man sich wie die Herren von Arnim, die hier einst ebenfalls hoch zu Ross unterwegs waren.
Dabei sind es gerade einmal 80 Kilometer vom Norden Berlins bis hierher; nur eine gute Stunde Fahrt vom Rand der quirligen Hauptstadt. Doch Menschen trifft man in der Uckermark nur wenige. Einige Einheimische und ein paar Zugereiste aus den Metropolen, die hier mitten im abgeschiedenen Nirgendwo ihren Platz an der Sonne gefunden haben, verteilen sich auf winzige Dörfer, die so versteckt liegen, dass sie bislang niemand im Renovierungswahn verunstalten konnte.
Einer von Deutschlands flächenmäßig größten Landkreisen liegt im vergessenen Norden Brandenburgs zwischen Polen und Mecklenburg-Vorpommern. Er misst mehr als 3.000 Quadratkilometer – und ist mit gerade einmal 120.000 Einwohnern einer der am dünnsten besiedelten.
Wenn dann aber plötzlich einige auffällig-unauffällige Kleinbusse mit getönten Scheiben am Wegesrand stehen und auf dem Feldweg nur noch junge Männer auf- und abspazieren und einen mit professioneller Aufmerksamkeit abschätzen, weiß man: Um die Ecke muss das Haus der Bundeskanzlerin liegen. Ab und an genießt auch Angela Merkel einen freien Sommertag in ihrer alten Heimat.
Eiszeitseen, Moore und Heiden
Mathilde zieht derweil den Planwagen weiter. Die Hufe klappern, die Achsen ächzen, und am Ende eines langen Tages riecht alles wunderbar nach Pferd. Der Rhythmus der Reise ist Tag für Tag der gleiche: Zugtier anspannen, Schritt für Schritt die Natur in sich aufnehmen, ein paar Walderdbeeren sammeln oder am Wegesrand wilde Pflaumen pflücken, Zugtier ausspannen, striegeln und putzen, dann den Nachmittag vertrödeln: So lässt es sich leben! Der Alltag ist schnell vergessen in der Uckermark – angesichts ihrer scheinbar unbegrenzten Weite wirkt die Region auch wie eine Landschaft von einem anderen Stern. Wiesen, Wälder und bis zum Horizont wogender Weizen bestimmen die Szenerie. Dazwischen liegen mehr als 400 von Schilf gerahmte Eiszeitseen und unzählige Moore und Heiden – alles, auch die riesigen Findlinge, Hinterlassenschaften der vor vielen tausend Jahren zurückgewichenen Gletscher. Große Teile der Region sind heute durch den Nationalpark Unteres Odertal, das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin und den Naturpark Uckermärkische Seen geschützt.
Weit, weit weg vom Rest der Welt scheint deswegen dieser unberührte Flecken Land. Und so ist eine Entschleunigungswoche mit Pferd und Planwagen viel zu schnell wieder vorbei. Doch wer will, kann seine Tour verlängern. So viel Zeit muss sein für eine Zeitreise in die Uckermark.