Die künftige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen plant eine Reform der Asylpolitik. Im Mittelpunkt steht eine faire Verteilung von Migranten und Flüchtlingen. Bisher sind Reformversuche der Dublin-Regeln gescheitert, eine Mitschuld daran trägt auch die EU-Kommission.
Sie heißen Alan Kurdi, Open Arms, Gregoretti oder Sea-Eye. Sie kreuzen zwischen Italiens Küsten, Malta und der afrikanischen Küste. Wenn sie Menschen aus den Booten gerettet haben, versuchen sie, italienische oder maltesische Häfen anzusteuern, doch die Behörden lassen sie meist erst einmal nicht anlanden. Irgendwann geschieht das dann doch, inzwischen nur noch dann, wenn andere Länder der EU sich bereit erklären, Flüchtlinge aufzunehmen. Meist wird nicht klar gesagt, wer und wieviel, aber darum geht es immer. Von Fall zu Fall, mal 40, mal 100 oder mehr.
Es hat etwas von Erpressung: So lange es keine dauerhaften Aufnahmequoten gibt, nach denen die Migranten verteilt werden können, handelt Italiens Innenminister Matteo Salvini nach dem Prinzip: Wenn deutsche Schiffe die Migranten bringen, soll Deutschland sie auch aufnehmen. Mit seiner brutalen Haltung hat er durchaus Erfolg, nicht nur beim Wähler, sondern auch in der Sache.
Das alles ist Ursula von der Leyen klar. Bei ihrem Besuch in der italienischen Hauptstadt, der wohl wichtigsten Station ihrer Vor-Amtsantrittsreise durch halb Europa, fand sie deutliche Worte, die Salvini gefallen haben könnten. Jedenfalls sollten sie das: „Ich schlage einen neuen Migrationspakt vor." Solidarität sei keine Einbahnstraße und vor allem will sie eine „neue Art der Lastenverteilung". Anders wird es auch kaum gehen.
Seit Jahren ist klar: Das Dublin-System ist am Ende. Im Übereinkommen von Dublin, das 1990 geschlossen wurde und 1997 in Kraft trat, wurde das Prinzip festgelegt, das sich mittlerweile fatal auswirkt. Es sieht praktisch eine alleinige Verantwortung desjenigen Landes für den Asylantrag eines Migranten vor, in dem dieser erstmals EU-Boden betreten hat. Da kaum einer mit dem Flugzeug kommt, sind dies in fast allen Fällen Griechenland und Italien. Schon vor ihrer Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin hatte von der Leyen erklärt, das Dublin-Prinzip „nicht verstanden" zu haben. Längst ist klar: Die Südländer können mit den Migranten nicht alleine gelassen werden. Schon 2015, zum Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung, hat die EU-Kommission daher ein Konzept entwickelt: Migranten und Flüchtlinge sollten nach einem bestimmten Schlüssel auf alle EU-Länder verteilt werden. Zunächst sollte es nur für eine begrenzte Zahl gelten, aber eine Verlängerung war damals schon absehbar.
Es hat nie funktioniert. Vor allem Ungarn und Polen haben sich strikt geweigert, diesen Verteilmechanismus zu akzeptieren. Dabei dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass dieser Schlüssel von Anfang an eine Fehlkonstruktion war. Er bezog sich auf vier Faktoren, vor allem auf das Bruttoinlandsprodukt (zu 40 Prozent) und die Bevölkerung (40 Prozent). Mit dieser Formel sollte der Eindruck erweckt werden, ärmere Staaten wie die östlichen EU-Länder bekämen einen Nachlass, weil ja vier Faktoren berücksichtigt wurden. Faktisch hätte diese Quote aber eine Verteilung in etwa nach den Anteilen der Bevölkerung bedeutet, der „Nachlass" war lächerlich gering. Somit hätte dieser Schlüssel ähnlich wie der berühmte Königsteiner Schlüssel gewirkt, nach dem seit 1949 innerhalb Deutschlands die Bundesländer gemeinsame Aufgaben und auch Flüchtlinge verteilen. Dieser Schlüssel hat gut funktioniert, ist faktisch schlicht eine Aufteilung proportional zur Bevölkerung, obwohl er komplizierter aussieht. Doch was innerhalb Deutschlands mit einigermaßen vergleichbaren Lebensverhältnissen funktioniert, kann für die ganze EU nicht vorausgesetzt werden.
Deutschland hat eine Schlüsselrolle
Die Frage wurde in den westlichen EU-Hauptstädten und in Brüssel nie laut gestellt: Ist die Verteilung faktisch pro Kopf der Bevölkerung fair? In Polen verdienen Beschäftigte im Schnitt etwa ein Drittel so viel wie in Deutschland, 44 Prozent der Haushalte gelten nach einer EU-Statistik als „überbelegt". Jedem hätte klar sein müssen: Ein Schlüssel, der angesichts solcher Unterschiede proportional pro Kopf verteilt, ist zutiefst unfair. Zwar kann das die Totalverweigerung von Ungarn und Polen nicht wirklich rechtfertigen, aber der Widerstand dieser Länder wäre vielleicht schwächer gewesen, hätte die EU von Anfang an eine andere, fairere Quote entwickelt. Die designierte EU-Kommissionspräsidentin hat zumindest erkannt, dass „eine neue Art der Lastenverteilung" nötig ist. Man wird sehen, ob sie verstanden hat, dass dazu gehört, die Aufnahmefähigkeit der Länder realistisch einzuschätzen.
Seit Jahren verhandeln die EU-Staaten und die EU-Kommission bereits über eine Reform der Dublin-Regeln. Derzeit liegen einige Vorschläge auf dem Tisch, wobei von der Leyen vermutlich einen weiteren ins Spiel bringen wird. Gestritten wird etwa über die Fragen, ob Quoten verpflichtend oder freiwillig sein sollen, und ob sie temporär oder dauerhaft sein sollen. Es ist eine schwierige Gemengelage.
Zuletzt hatte auch der französische Präsident Emmanuel Macron versucht, neuen Schwung in die Debatte zu bringen. Deutschland und Frankreich bilden nach Macrons Ankündigung mit insgesamt 14 EU-Staaten eine „Allianz der Willigen" und schaffen so einen „solidarischen Mechanismus", um Migranten aufzunehmen.
Klar ist: „Der aktuelle Schiff-für-Schiff-Ansatz hat zur humanitären Krise geführt", sagt Lucas Rasche vom Jacques-Delors-Institut in Berlin. Tatsächlich gäbe es, wie Rasche betont, Chancen für einen solchen Ansatz. Zu den aufnahmebereiten Ländern zählt er neben Deutschland und Frankreich auch die Niederlande, Portugal, Schweden, Luxemburg. „Eine solche Allianz existiert ja in der Praxis bereits", so Rasche. Es gehe nun darum, diese faktische Allianz in eine juristische umzuformen. Dazu müsste auch ein bindender Verteilmechanismus gehören.
Möglicherweise wird sich aber ein ganz anderer Weg als viel erfolgversprechender erweisen: „Der Weg über die Kommunen", wie eine Studie der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung heißt. Bürgermeister sollen, wenn ihre Gemeinden aufnahmebereit sind, direkt mit EU-Unterstützung Zuwanderer aufnehmen können. „Die Kommunen selbst melden sich immer lauter zu Wort. Sie fordern mehr Mitsprache und vernetzen sich, um sich besser Gehör zu verschaffen. Städte-Netzwerke wie Eurocities und Solidarity Cities zeugen davon", schreiben die Autoren der Stiftung. „Ihre Vorstöße und Ideen für eine Neugestaltung der Aufnahmepolitik und -prozeduren sollten gehört werden, wenn das Subsidiaritätsprinzip und somit demokratische Teilhabe und lokale Selbstbestimmung ernst genommen werden."
In jedem Fall hat Deutschland dabei eine Schlüsselrolle, als größtes EU-Land mit relativ hoher Aufnahmebereitschaft von Migranten. Dabei hat das Dublin-Dilemma durchaus eine ironische Note: 1990, als das Abkommen ausgehandelt und vereinbart wurde, war Deutschland EU-Außengrenze. Das wurde deutlich, als 1993 über eine Viertelmillion Flüchtlinge aus dem vom Krieg entflammten Jugoslawien kamen. Sie flohen zwar meist über Österreich, aber Österreich trat erst 1995 der EU und damit dem Dubliner Abkommen bei. Die Flüchtlinge betraten also damals an der deutschen Grenze die EU. Der damalige deutsche CDU-Innenminister Manfred Kanther forderte daher auch eine gerechte Aufteilung der Flüchtlinge in der EU – ähnlich wie Italien heute. In den Ministerien in Berlin müsste man diese Argumente also durchaus kennen.