Vom Kohleausstieg sind Brandenburg und Sachsen direkt betroffen. Zum zweiten Mal innerhalb einer Generation droht vielen Menschen der Verlust ihrer Existenz. Vertrauen in die etablierten Parteien? Eher weniger. Ein Besuch in der Oberlausitz.
Es gibt einen ziemlich sicheren Beleg für „abgehängte ländliche Räume": Die Eisenbahnstrecke wird plötzlich einspurig, und die Zugwaggons rattern hinter einem Dieseltriebwagen her. In unserem Fall hinter einem von Bombardier, Typ „Talent". Elektrifizierte Strecken? Nicht hier. „Lohnt sich nicht", sagt die Deutsche Bahn, zu wenig Fahrgäste. Auf dem Weg von Berlin in die Oberlausitz beginnt dieses „lohnt sich nicht" spätestens hinter Cottbus. Wobei an diesem Donnerstagvormittag das „Ferkel-Taxi", so der Volksmund, recht gut besetzt ist. „Heute ist sogar ein bisschen ruhiger, aber in Brandenburg und Sachsen sind ja auch noch Ferien", erläutert die Fahrkartenkontrolleurin der Ostdeutschen Eisenbahn GmbH (ODEG). Also ist es eigentlich noch voller? Was ist mit der Bahn-Aussage? Seltsam. „Und da diskutieren die in Berlin darüber, dass wir unser Auto stehen lassen und auf Alternativen umsteigen sollen", schimpft eine ältere Dame, die auf dem Weg nach Zittau ist. Nicht ganz zu unrecht. Denn den Stundentakt auf der Strecke von Cottbus nach Zittau gibt es nur tagsüber, und das auch nur an den Werktagen. Dennoch: Auch darüber sind die Oberlausitzer schon heilfroh. Und am Wochenende? Da bleibt man dann eben zu Hause, wenn man kein Auto hat. Oder man strandet – zum Beispiel – in Hoyerswerda.
Berliner Bundespolitik: oft ganz weit weg
Sonntagvormittag, 10.30 Uhr, Bahnhofsvorplatz Hoyerswerda: Wir haben einen Interview-Termin mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. Eigentlich bei einem Ortstermin bei der Freiwilligen Feuerwehr Wittichenau. Und da standen wir dann: keine Möglichkeit, vom Zug weg irgendwie weiterzukommen. Klar gibt es Taxis – Wartezeit zwei Stunden. Was bleibt, ist in diesem Fall tatsächlich nur noch, sich zu Fuß auf den Weg zu machen: Acht Kilometer Landstraße – das ist nicht für jeden was.
Ländliche Räume im realen Leben an einem Sonntag in der Oberlausitz, ganz im Osten Deutschlands.
Donnerstags hat man mehr Glück, da klappt die Anreise ohne Probleme: dieselbetrieben mit einer ODEG-Bahn direkt durch bis ans Ziel nach Weißwasser. Die ehemals stolze Glasbläserstadt hatte mal fast 40.000 Einwohner. Das war zu Hochzeiten der Braunkohle, Ende der 80er Jahre. Zu DDR-Zeiten sorgten Braunkohle und Glasindustrie in Weißwasser für Wohlstand. Doch nach der Wende begann dann der wirtschaftliche Ausverkauf – und mit ihm die Abwanderung der Menschen: Seitdem hat sich die Bevölkerungszahl halbiert.
Zuerst musste die Glasindustrie dran glauben. Die Treuhandanstalt sollte man auch hier in Weißwasser besser nicht erwähnen. „Die haben unsere Hütten, also unsere Glaswerke, regelrecht verramscht! Das waren alles funktionierende Arbeitsplätze, da hingen Familien dran. Von heute auf morgen war Schluss." Armin regt sich heute noch auf darüber – er war einer, der damals ebenfalls auf der Straße landete. Er hätte Mitte der 90er-Jahre mitgehen können nach Bayern, wo sein Werk dann unterm Strich landete. „Aber zwei Jahre vor der Rente hier alles aufgeben? Nee, das wollte ich nicht", schüttelt Armin den Kopf. Seine beiden Söhne verdienen ihren Lohn im Braunkohletagebau Nochten, vor den Toren von Weißwasser. Der letzte große Arbeitgeber hier vor Ort, an dem auch wieder viele Familien in Weißwasser hängen. Braunkohle – auch ihr Ende ist in Sicht.
Gewählt wird Klartext oder Wir für Hier
Wer zu Besuch ist, wie der 23-jährige Tom Thiele aus Radeberg, östlich von Dresden, hat damit erst mal nicht so viel zu tun. Tom ist zum zehnten Mal in Weißwasser. Er ist Ausbilder im Spielmannszug Radeberg, der immer seine Jugend-Sommerferien hier verbringt. Dank der Musik kommt Tom viel rum in Deutschland. Seine Erfahrung: „Ich weiß, dass wir Sachsen im restlichen Deutschland nicht wirklich gut wegkommen, unser Image ist nicht das beste." Doch richtig verstehen kann er das nicht. „Wir sind halt konservativ, bürgerlich und haben Freude an der Musik. Natürlich marschiert der Spielmannszug im Gleichschritt, doch das machen die Karnevalsvereine an Rhein, Ruhr und Mosel ja auch", meint der angehende Deutschlehrer. Er kennt die DDR nur aus den Erzählungen seiner Eltern und Großeltern. Doch alles kann im ehemaligen Arbeiter- und Bauern-Staat nach deren Beschreibungen nicht verkehrt gewesen sein. „Das Schulsystem, das wir jetzt haben, wurde direkt nach der Wende abgeschafft und dann nach und nach wieder eingeführt. Nicht nur bei uns, sondern auch bei denen drüben im Westen", sagt er. Auch beim Recycling kopiere der Westen den Osten. „Meine Eltern schütteln immer nur mit dem Kopf, wenn ein Umweltminister in Berlin mit der Inbrunst der Überzeugung feststellt, dass Rohstoffe wertvoll sind und wiederverwertet werden müssen." Das wussten die Menschen in der DDR nicht nur, sondern haben es auch aktiv gemacht. Für die Abgabe von Papier, Metallen und Glas gab es Prämien. So mancher Sommerurlaub wurde mit Rohstoffsammeln finanziell überhaupt erst möglich. Oder was mussten sich die Menschen nach der Wende veräppeln lassen mit ihrem „Zoni-Beutel" – heute ist die „Mehrfachtragetasche" aus Stoff in ganz Deutschland normal. Hier im Nordosten Sachsens wird immer wieder deutlich: Die Überheblichkeit gerade des politischen Berlins „geht den Menschen hier reichlich auf die Ketten", so der 23-jährige Tom. Womit auch Entscheidungen gemeint sind, die die Menschen hier überhaupt nicht mehr nachvollziehen können.
Der Beschluss zum Kohleausstieg „hat die Menschen hier in der Oberlausitz wie ein Keulenschlag getroffen", berichtet Oberbürgermeister Torsten Pötzsch (48). „Da wurden Erinnerungen an die Zeit nach der Wende wach." Pötzsch leitet seit fast zehn Jahren die Geschicke von Weißwasser. Typisch für die Menschen vor Ort: Der OB gehört keiner Partei an, sondern kommt vom Wählerbündnis Klartext, der stärksten politischen Kraft in der Stadt. Dann gibt es noch das Bündnis Wir für Hier. Und die Wählergemeinschaft für Kinder, Jugend und Familie (KJiK).
Die „etablierten Parteien", also in Sachsen CDU und Linke, spielen nicht nur hier in Weißwasser, sondern auch in anderen Kleinstädten der Oberlausitz kaum noch eine Rolle. Das hat sicherlich was mit dem schleichenden Ausstieg aus der Braunkohle zu tun, aber auch mit dem Umstand, dass hier viele Probleme denen im Rest der Welt entgegenlaufen.
So diskutiert ganz Deutschland über Wohnungsnot, Mietpreisexplosion oder ökologische Sanierung – in Weißwasser gibt es zu viele Wohnungen. Hier muss Wohnraum abgerissen, auf Amtsdeutsch „zurückgebaut", werden.
„Wir müssen jetzt das Beste draus machen"
Also ökologische Sanierung? Thomas Rechentin ist Amtschef des Kommunalen Wohnungsbaus im sächsischen Innenministerium in Dresden. Wenn er dieses Schlagwort auch nur hört, verdreht er schon die Augen. Unrealistisch sei das, erklärt er, wenn die Leute so geringe Mieten wie vor Ort zahlen – damit könnten die Wohnungsbaugesellschaften keine großen Sprünge machen, ohne irgendwann selbst Pleite zu gehen (siehe Interview links). Darauf angesprochen, nickt Oberbürgermeister Pötzsch nur zustimmend mit dem Kopf. Doch die Stadt kann die Kosten auch nicht übernehmen, denn der Stadtsäckel ist nicht nur leer, sondern hat ein dickes Loch von mehr als zehn Millionen Euro Schulden. „Wenn jetzt die Braunkohle auch noch wegbricht, dann sind das ja nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Steuern, die dann wegfallen und mir dann am Ende des Tages fehlen", so Pötzsch.
Weißwassers OB spielt seit seinem ersten Arbeitstag mit offenen Karten – das wurde von der Bevölkerung mit einer zweiten Amtszeit belohnt. Glücklich ist er mit der Lage vor Ort nicht, aber er schaut nach vorn: „Das mit dem Kohleausstieg können wir nicht mehr ändern, jetzt müssen wir das Beste draus machen." Pötzsch hofft auf die versprochenen 40 Milliarden Euro Infrastrukturhilfe vom Bund. Ein Teil seiner Hoffnung für die Zukunft von Weißwasser liegt aber auch in der Glasindustrie. „Eventuell gelingt es uns, die Glasverhüttung wieder nach Weißwasser zurückzubringen, doch das wird ein Prozess von Jahrzehnten."
Eventuell. Jahrzehnte. Hoffen: Gewissheit darüber, wie es demnächst aussehen wird in der Region, klingt anders. Vielleicht ist es gerade diese Unsicherheit, die die Menschen ihre Wahl-Kreuzchen bei anderen Gruppierungen setzen lässt als in vielen anderen Gegenden der Republik.