Im Sommer 1969 versprach ein Event „drei Tage voller Frieden und Musik": das Woodstock-Festival. Vom 15. bis 18. August tummelten sich eine halbe Million Leute auf einer Weide im US-Bundesstaat New York. Dort frönten sie friedlich den Drogen und dem Rock’n’Roll.
Die Luft riecht nach Schweiß, nach Schlamm, Marihuana, Erbrochenem, Duftölen, Urin und durchgebrannten Verstärkern. Über zertretenen Gänseblümchen weht Musik und mit ihr die Stimmen Hunderttausender friedensbewegter Rockfans. Überall tanzen, singen, schlafen oder schreien halbnackte Hippies, manche liegen sich in den Armen, andere machen ungeniert Liebe, etliche sind auf einem LSD-Trip und nehmen nur noch bunte Muster wahr.
Als der Sonntagmorgen dämmert, legt Nick Ercoline zärtlich eine Decke um sich und seine Frau Bobbi. Zu den Füßen des Lockenkopfes und der Blondine schläft Corky. Er hat die beiden frisch verliebten 20-Jährigen im Auto seiner Mutter mitgenommen. Als der Magnum-Fotojournalist Burk Uzzle zufällig an dem Trio vorbeikommt, drückt er geistesgegenwärtig auf den Auslöser – nicht ahnend, dass sein Bild zu einer Ikone der Gegenwärtskultur werden sollte. Ein dreiviertel Jahr später ziert es nicht nur das Cover des millionenfach verkauften Woodstock-Live-Albums, sondern auch das Plakat des Oscar-prämierten Dokumentarfilms von Michael Wadleigh.
Ein glücklicher Zufall hat Bobbi und Nick Ercoline zu begehrten Zeitzeugen gemacht. Das aufgeschlossene und fröhliche Ehepaar, das noch immer in der Nähe des ursprünglichen Festivalstandortes lebt, hat im Laufe der Zeit viele Interviews gegeben und hält bewegende Vorträge. Die inzwischen 70-Jährigen sind immer noch ineinander verliebt. Diesen Eindruck jedenfalls erwecken die zweifachen Eltern und vierfachen Großeltern beim Interview in Berlin. Nick hat seine jugendlichen Locken mittlerweile eingebüßt, trägt eine ausgewaschene Jeans und macht gern Scherze. Bobbi steckt in einem modischen Rollkragenpulli und wirkt mit ihrer grau-blonden Kurzhaarfrisur jünger als sie ist. Sehen so Althippies aus?
Ikone der Gegenwartskultur
Woodstock 1969 gilt als Hippie-Sause. Die größte Spielwiese der Blumenkinder wurde tatsächlich von Aussteigern gegründet: Michael Lang, Artie Kornfeld und Elliott Tiber, dem Ang Lee vor zehn Jahren seinen Film „Taking Woodstock" widmete. Die Ercolines haben jedoch nie gekifft und gehörten auch nie irgendeiner alternativen Szene an. Sie sind typische Vertreter der weißen Mittelschicht, die rein statistisch den Durchschnitt der amerikanischen Bevölkerung abbildet.
„Nick hatte damals schon eine eigene Wohnung, und ich wohnte in einer WG mit zwei anderen Mädchen", erzählt Bobbi lebendig im Restaurant eines Hotels am Alexanderplatz. „Ich war bei einer Bank angestellt, und Nick war Student mit zwei Aushilfsjobs." Gemeinsam mit ihren Freunden Jim „Corky" Corcoran, Mike Duco und Cathy Wells fuhren sie am 15. August 1969 nach der Arbeit ganz spontan zum Festivalgelände nach Bethel, weil sie in der Nähe lebten. „Die lokalen Nachrichtensender berichteten permanent darüber, wie es mit dem Festival voranging", erinnert sich Nick. „Am ersten Tag hörten wir im Radio, es würden sich Massen auf den Weg machen. Der Moderator sagte, man solle lieber zu Hause bleiben. Das Verkehrschaos sei so groß, dass man es nicht mehr in die Nähe der Bühne schaffen würde." Aber gerade das Abenteuerliche reizte die jungen Leute, ins Auto zu steigen.
Weil der bekiffte Elliott Tiber bei einer Pressekonferenz irrtümlicherweise Woodstock zu einem Gratisfestival erklärt hatte, machten sich etwa eine Million Menschen auf den Weg. Es gab auf dem Gelände weder Zäune noch Tore, die die Massen hätten aufhalten können. Die Veranstalter hatten ursprünglich eine Genehmigung für ein Music & Art-Festival im Örtchen Wallkill beantragt. „Sie sagten, sie erwarteten 5.000 Besucher", weiß Nick, der zu einem Woodstock-Experten geworden ist. „Nachdem sie mit dem Aufbau begonnen hatten, mussten sie aber feststellen, dass sie bereits 50.000 Tickets verkauft hatten. Das war den Behörden von Wallkill zu viel und sie zogen die Genehmigung zurück. Am Ende landeten die Organisatoren auf Max Yasgurs 2,4 Quadratkilometer großem Acker in der Nähe von Bethel."
Organisation endete im totalen Chaos
Zehntausende Musikfans, die im Umkreis von 30 Kilometern feststeckten, parkten ihre Autos aus Verzweiflung auf Feldern, in Wäldern, auf wildfremden Rasen und Auffahrten. Die Hippies waren vielerorts nicht willkommen, weil sie unterwegs Äpfel, Gurken und Tomaten stahlen. Es war extrem heiß, und viele begannen übel zu riechen. Manche Hausbesitzer hatten Mitleid mit den schwitzenden Freaks und gaben ihnen etwas zu trinken.
Zu der Decke auf dem berühmten Foto kamen Nick und Bobbi wie die Jungfrau zum Kinde. An Schlafsäcke hatten sie nämlich nicht gedacht, dafür aber an Bier und Wein. „Viele der Marschierenden waren irgendwann so fertig, dass sie ihre mitgeführten Sachen einfach fallenließen", erinnert sich Bobbi. „Überall lagen Stühle, Schlafsäcke, Decken, Zelte, Koffer, Klamotten und Instrumente herum. Die Decke haben wir einfach irgendwo aufgelesen und am Ende mit nach Hause genommen."
1989 wurden den Ercolines für diese schnöde Steppdecke sage und schreibe 30.000 Dollar geboten. Aber zu dem Zeitpunkt existierte sie schon nicht mehr. Wer konnte auch ahnen, welche Bedeutung Woodstock einmal haben würde. Nick erzählt lachend, wie er mit 20 jeden Tag mit einem VW Käfer rund 100 Kilometer Richtung New York City zur Arbeit fuhr. „Käfer waren in den 60er-Jahren nicht besonders dicht, weshalb ich die Decke im Winter immer im Frontbereich liegen hatte. Sie sollte mich vor eisiger Luft und Salzwasser schützen. Das hat den Stoff mit der Zeit leider zerstört."
Friedliches Miteinander trotz brütender Hitze
Das Schönste an Woodstock war für die Ercolines nicht vorrangig die Musik von Santana, Crosby, Stills, Nash & Young oder Jimi Hendrix, sondern das Wunder, dass es unter den 500.000 Besuchern zu keinerlei Gewalt kam. Viele Hippies glaubten damals an den Beginn eines neuen Zeitalters voller Liebe und Frieden. Lediglich ein Besucher starb an einer Überdosis, und ein anderer wurde versehentlich von einem Traktor überfahren, während er in einem Kornfeld schlief.
Nick sagt, er werde nie vergessen, unter welch harten Bedingungen Woodstock stattgefunden hat. Die drei wilden Tage im August 1969 begannen bei 35 Grad in der Sonne, nirgendwo auf dem Acker des Milchbauern Max Yasgur gab es Schatten, und am zweiten Tag brach ein gewaltiger Sturm los. Nach dem Regen brannte die Sonne genauso erbarmungslos auf die halbnackten Körper wie davor. Eigentlich ideale Voraussetzungen, um durchzudrehen. Dass aber alle friedlich blieben, wundert Nick bis heute: „Die Leute saßen nass bis auf die Knochen Schulter an Schulter im Matsch. Aber sie haben es klaglos hingenommen!"