Viele Radiosender leben von Werbeeinnahmen. Dabei entscheiden die Einschaltquoten über wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg. Wie sie zustande kommen, ist umstritten.
Die Einschaltquoten beim Radio? Die haben keinerlei Aussagekraft." Das sagt José Abussa, Besitzer einer bekannten Werbeagentur in Frankfurt am Main. Er steht mit seiner Aussage nicht allein da: Seit 1972 gibt es immer wieder heftige Kritik an der „Medienanalyse Audio". Hauptkritikpunkt: die angewandte Methode.
Zweimal im Jahr werden Deutschlands Radiomacher nervös: „Dann bekommen wir so etwas wie Zeugnisse", sagt ein Radiomacher aus Berlin. Das sind keine Noten für gutes oder schlechtes Programm, die Media-Analyse Audio (kurz: ma) liefert im Frühjahr und im Sommer die aktuellen Einschaltquoten. Die sind nicht nur wichtig fürs Selbstbewusstsein der Moderatoren, Musikredakteure und Programmplaner. „Die bedeuten bares Geld für die Sender", erklärt Marc Erny (39), Geschäftsführer der Radio-PR Agentur Allmediachannels in Berlin. „Anhand dieser Zahlen wird der nationale Werbetopf ausgeschüttet. Denn: Großkunden wie McDonald’s, BMW oder Ikea buchen ihre Spots ja nicht bei jedem Sender einzeln, sondern über Agenturen, damit die Spots dann auch wirklich bundesweit laufen." Wie viel Geld am Ende zum Beispiel bei Radio Salü im Saarland eingehe, hänge dann ausschließlich von den durch die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e.V. (agma) ermittelten Zahlen ab. „Da achtet dann jede Station darauf, sich möglichst positiv zu verkaufen", stöhnt José Abussa.
Rückblick: 10. Juli, an diesem Mittwoch präsentierte die agma ihre neuesten Umfrageergebnisse. Abussa: „Da wird Deutschland mit einem Zahlenwust überzogen, den nur ein wirklicher Experte versteht." Besonders schlimm sei es dann in Berlin und Brandenburg. So feierten sich gleich mehrere Stationen als Gewinner. Der rbb teilte mit: „Antenne Brandenburg vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) bleibt das meistgehörte Radioprogramm im Land Brandenburg. Die ma weist für Antenne Brandenburg eine Tagesreichweite (Montag bis Freitag) von 119.000 Hörerinnen und Hörern pro Durchschnittsstunde aus." Gleichzeitig schreibt der private Konkurrent BB Radio in einer Pressemitteilung: „763.000 Hörer schalten den Sender jetzt täglich ein – ein Zuwachs von 79.000 Hörern und damit eine Topposition in der Region!" Und die PR-Abteilung des Berliner Rundfunks feiert sich auf ihrer Homepage kurz und knapp mit den Worten: „Wow!! Wir sind die Nummer 1 unter allen Radiosendern in Berlin & Brandenburg!"
Wer die Zahlen verstehen will, muss genau hinschauen
„Wer diese Zahlen verstehen will, muss ganz genau hinsehen", sagt Marc Erny, der über zehn Jahre lang unter anderem für Radio Salü, Baden FM und Radio Ton (beide Baden Württemberg) als Nachrichtensprecher und Moderator selbst am Mikrofon stand. Wer lügt nun in seiner Pressemitteilung: der rbb, BB Radio oder der Berliner Rundfunk? „Niemand, das ist ja das Schlimme", sagt José Abussa und schüttelt den Kopf. „Antenne Brandenburg gibt die durchschnittliche Zahl der Hörer in der Stunde an und BB Radio nennt die Zahl der Menschen, die täglich einschalten. Ob man es glaubt oder nicht, Marktführer ist der Berliner Rundfunk. Das ist derzeit die Nummer eins in Berlin und Brandenburg."
Doch das ist noch lange nicht alles. In der Kritik steht auch die Befragung der agma als Ganzes. Herbert Stümpert, ehemaliger Programmdirektor von Radio R.SH in Kiel sagte bereits Anfang der 2000er-Jahre: „Es ist nicht wichtig, wie viele Leute uns wirklich hören. Wichtig ist, dass sich möglichst viele an unseren Sender erinnern können, wenn sie von Marktforschern danach gefragt werden." Deshalb veranstalten die Sender auch zu den Umfragezeiten im Frühjahr und Sommer einen wahren „Jinglemarathon", nennen zusätzlich mehrfach in der Stunde den Sendernamen. Auch die „großen" Gewinnspiele der Sender gehen genau zu dieser Zeit über die Antenne. Hauptsache, der Hörer erinnert sich an die Station. Die anschließend in der Media-Analyse veröffentlichten Zahlen für den Hörfunkmarkt gelten dann als allgemeingültige Währung. Sie bilden die Grundlage zur Kalkulation der Preise für die Werbezeiten. Es geht um Milliarden. Alleine 2018 betrugen die Bruttowerbeerlöse 1,95 Milliarden Euro (Angabe Verband privater Medien).
Doch PR-Fachmann Marc Erny kritisiert auch die Methodik der ma: „Die Fallzahlen, das heißt die Menge von Menschen, die befragt werden, ist einfach viel zu gering." Das führe zu den absurdesten Ergebnissen. „Da gibt es einen kleinen Lokalsender in Süddeutschland, der auf einmal eine enorme Einschaltquote mit dem Kirchenfunk am Sonntagmorgen zwischen 8 und 9 Uhr hatte. Plötzlich haben da laut Medienanalyse angeblich 89.000 Menschen eingeschaltet." Wie konnte das passieren? Erny: „Ganz einfach. Da haben die wenigen befragten Menschen angegeben, genau jenen Radiosender zu hören, und das wurde dann hochgerechnet. Völliger Nonsens: Am Sonntagmorgen um 8 Uhr hört so gut wie niemand Radio."
Das klassische Radio ist weiter beliebt
Diese Fehlerproblematik in der Befragungsmethodik hat man in der Schweiz bereits 2001 erkannt. Dort werden die Einschaltquoten der Radiosender seither nicht mehr per telefonischer Befragung sondern technisch ermittelt. Beim „Metersystem Radiocontrol" erhalten die Teilnehmer eine Art Armbanduhr. Das System erkennt, ob und wenn ja welche Radiostation gerade beim „Uhrenträger" läuft. „Doch auch diese Messung hat Probleme", sagt Marc Erny, „Wenn der Teilnehmer zum Beispiel in einen Supermarkt geht und da läuft ein Radiosender, erkennt Radiocontrol den Radiosender, der dort läuft." Situationen, in denen man unbewusst beschallt wird, gibt es viele: Im Fitnessstudio, im Bus oder bei der Arbeit.
Trotz aller Kritik an der ma, eines scheint aber festzustehen: Internet und veränderte Mediennutzung haben nichts an der Beliebtheit des klassischen „linearen" Radios geändert. So schreibt das Insidermagazin „Radioszene.de": „In Zeiten der Digitalisierung verändert sich die Mediennutzung immer rasanter. Spotify ist derzeit mit 1,7 Millionen Hörern der größte Anbieter in diesem Bereich, verliert allerdings im Vergleich zum Vorjahr. Hingegen steigern die Online-Angebote klassischer Radiosender (Simulcasts) ihre tägliche Hörerzahl."
Abussa nennt ein ganz konkretes Beispiel aus dem letzten Jahr: „Wir hatten ein asiatisches Land als Werbekunden, das wir in Deutschland bekannt machen sollten. Wir haben es zunächst mit einfachen Filmchen und Gewinnspielen auf allen Online-Kanälen versucht. Das hat uns fast 100.000 Euro gekostet. Ohne Erfolg: Buchungen für eine Asienreise blieben gänzlich aus." Erfolg brachte eine Bauchentscheidung von Abussa: „Ich habe dem Kunden empfohlen, sich auf klassisches Radio und wirklich professionelle Filme zu konzentrieren. Das wollte der Kunde erst nicht, hat dann aber zugestimmt." Der Erfolg war überwältigend: Innerhalb von einem Monat wurden über 1.500 Reisen gebucht, etwa 2,7 Millionen Menschen wurden mit der Kampagne erreicht.