Michael Drascher war beruflich erfolgreich, Vater von zwei Kindern und körperlich topfit, als ihn vor viereinhalb Jahren ein plötzlicher Schlaganfall völlig aus der Bahn warf. Laufen, sprechen, greifen: Der 54-Jährige musste im Grunde alles noch einmal ganz neu lernen. Inzwischen arbeitet er wieder und kann sogar wieder Auto fahren. Doch die Auswirkungen des Schlaganfalls sind nach wie vor zu spüren.
Wenn sein Sohn sich an die Regeln gehalten hätte, wäre Michael Drascher heute vermutlich tot. Eigentlich sollte Leon nachts nicht mehr ins Bett der Eltern klettern. Aber in jener verhängnisvollen Nacht im Januar 2015 stand der Sechsjährige um halb fünf plötzlich doch wieder im elterlichen Schlafzimmer. Ehefrau Sandra wachte als Erste auf und bemerkte, wie ihr Mann neben ihr im Schlaf unruhig den Kopf hin und her warf. Sie machte sich große Sorgen und versuchte ihren Mann zu wecken, doch der reagierte bereits nicht mehr. In jener Nacht hatte Michael Drascher einen Schlaganfall erlitten – die Hauptschlagader war geplatzt, sodass Blut unkontrolliert ins Gehirn strömte, eine sogenannte Subarachnoidalblutung. Michael Drascher war teilweise gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. „Er war hilflos wie ein Baby", erinnert sich seine Frau. Gerade noch rechtzeitig rief sie den Notarzt. „Man vermutet, dass sich der Schlaganfall bereits zwischen 1 und 3 Uhr ereignet hatte", sagt sie. „Der Arzt meinte später zu mir: Eine Stunde später, und es wäre zu spät gewesen."
Der Schlaganfall traf den Mann aus dem hessischen Obertshausen völlig unvorbereitet. Der heute 54-Jährige war kerngesund und ging regelmäßig joggen und Fahrradfahren. „Für mich war es normal, fit zu sein, viel zu arbeiten und viele Dinge gleichzeitig zu erledigen", sagt er. Auch als Zuschauer war der Familienvater (Leon, Luca) dem Sport als Fan des Fußballvereins Kickers Offenbach eng verbunden. Beruflich war er als Leiter einer Entwicklungsabteilung bei Opel in Rüsselsheim für eine Gruppe von knapp zehn Mitarbeitern verantwortlich. Michael Drascher liebt seinen Job. Umso mehr wunderte sich seine Frau, als er am Vorabend des Schlaganfalls früher als sonst bereits um 17 Uhr nach Hause kam. Er fühlte sich nicht gut und war den ganzen Abend über sehr ruhig, doch wirklich beunruhigt war Sandra Drascher nicht. „Ich dachte, er brütet einfach eine Grippe aus", sagt sie.
„Jeden Schritt, jedes Wort habe ich mir mühsam zurückerobert"
Erst später erfuhr sie, dass ihr Mann sich schon auf der Arbeit komisch benommen hatte. Er wirkte verwirrt, stellte einer Sekretärin mehrmals die immer gleiche Frage. Bei einem Jobinterview mit einem Bewerber war es auch schon „irgendwie anders" als sonst. „Ich denke, dass ich da schon einen kleinen Schlaganfall gehabt habe, den aber keiner als solchen erkannt hat", sagt er. Als er am frühen Abend nach Hause fuhr, schien alles wieder wie vorher zu sein. Doch nichts war in Ordnung: Nach seinem Schlaganfall wurde Michael Drascher in der Stroke Unit des Offenbacher Sana Klinikums notfallversorgt und in ein künstliches Koma versetzt. „Die Ärzte haben uns auf das Schlimmste vorbereitet", sagt Sandra Drascher.
Jeder fünfte Schlaganfallpatient stirbt innerhalb der ersten vier Wochen an den Folgen. Doch Michael Drascher hatte Glück im Unglück. Der Ingenieur überlebte – aber zu welchem Preis? „Nach meinem Schlaganfall konnte ich weder laufen noch sprechen. Jeden Schritt, jedes Wort habe ich mir mühsam zurückerobert. Bei einem Schlaganfall wird einem im Grund von einem Moment zum anderen alles genommen, was man sich im Leben aufgebaut hat", sagt er. Seine Frau meint: „Sie werden quasi auf Kleinkindniveau zurückgeschraubt. Mein Mann konnte eine Birne nicht mehr von einer Tomate unterscheiden. Das war einfach krass." Umso mehr bewundere sie, dass ihr Mann trotz des Schicksalsschlags zumindest nach außen hin Haltung bewahrte. Viele Schlaganfall-Patienten leiden unter Depressionen, doch Michael Drascher blieb stets optimistisch. „Ich habe ihn nicht oft weinen sehen. Stattdessen ist er immer mit einer positiven Einstellung an die Sache herangegangen", sagt seine Frau. Sie selbst habe dagegen häufiger zu Hause gesessen und einfach nur geheult: „Am Ende des Tages war ich allein. Wenn die Kinder im Bett waren, war niemand mehr da, mit dem ich reden konnte. Diese Stille war kaum auszuhalten."
Nach einigen Wochen wurde Michael Drascher in die Median-Klinik in Wiesbaden verlegt, ein Spezialkrankenhaus zur Frühbehandlung neurologischer Reha-Patienten. Insgesamt 22 Wochen verbrachte er dort. Die meiste Zeit saß er im Rollstuhl, doch am Tag seiner Entlassung verließ er die Klinik auf eigenen Beinen. Allerdings nur dank einer Stahlorthese, durch die das noch immer geschwächte Bein gewissermaßen versteift wurde. Sein Arm war zu diesem Zeitpunkt noch immer vollständig gelähmt, das Sprachvermögen sehr schlecht. „Insgesamt habe ich da doch noch ein sehr trauriges Bild abgegeben", sagt er. Es folgten vier weitere Wochen Reha in einem Klinikum in Heidelberg. Auch dort sollte Michael Drascher weiter seine Stahlorthese tragen. „Aber je länger das Bein so fixiert wird, umso schwieriger wird es später, wieder richtig laufen zu lernen. Im Nachhinein wäre es wohl besser gewesen, wenn man gleich mit anderen Übungen begonnen hätte", sagt er.
Schon direkt nach dem Schlaganfall hatte er sich geschworen: „Ich will wieder ein ganz normales Leben führen." Davon war Michael Drascher zu diesem Zeitpunkt allerdings immer noch weit entfernt. Aber er konnte sich auf die Hilfe seiner Familie verlassen, welche die weiteren Schritte für seine Genesung in die Wege leitete. „Ich bin meiner Frau und meinen Kindern unglaublich dankbar, dass sie mich zu jeder Zeit so toll unterstützt haben", sagt er. „Als Patient kann man sich um all diese Dinge nicht kümmern; daher ist man darauf angewiesen, dass das jemand für einen übernimmt. Leider habe ich viele schlimme Fälle mitbekommen, in denen das nicht der Fall war und in denen die Menschen nach einem Schlaganfall weitgehend auf sich allein gestellt waren. Ich bin mir sicher, dass so mancher Fall mit mehr Unterstützung ganz anders verlaufen würde."
Bei ihm hatte seine Frau in der Lokalzeitung einen Artikel gelesen, in dem über ein vergleichbares Schlaganfall-Schicksal mit erfolgreichem Verlauf berichtet wurde. Darin war auch die Rede von einem ambulanten Rehabilitationszentrum in der Nähe, das eine Schlaganfall-Intensivtherapie anbietet. Besitzer ist Helmut Gruhn, gelernter Physiotherapeut, der vor Jahren die sogenannte „Back to life"-Methode entwickelt hat, die wiederum auf dem Bobath-Konzept beruht. Bei dieser Methode stehen der Mensch und seine individuellen Bedürfnisse im Mittelpunkt. Es gibt keine standardisierten Übungen, stattdessen ergibt sich die Therapie aus dem bisherigen Leben des Patienten, seinem sozialen Umfeld und seinen Interessen. Während der ambulanten Reha kümmert sich ein ganzes Netzwerk aus Physio- und Ergotherapeuten, Ärzten und Logopäden um den Patienten, und zwar mit bis zu acht Therapieeinheiten pro Woche – doppelt so viele wie beim herkömmlichen Verfahren.
Die Krankenkasse übernimmt allerdings nur die gesetzlichen Therapieeinheiten. Eine private ambulante Reha muss der Betroffene selbst zahlen. Somit bedeutete der Schlaganfall für Familie Drascher auch eine erhebliche finanzielle Belastung. „Ich kann jedem nur raten, eine Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen. Wir hatten zum Glück eine – sonst hätten wir es so nicht geschafft", sagt Sandra Drascher. Doch das Geld war gut angelegt. Sandra Drascher ist überzeugt: „Die Therapie von Helmut Gruhn war der Schlüssel zum Erfolg. Ohne dieses Netzwerk stünde mein Mann heute ganz sicher nicht wieder da, wo er ist."
Konzentration und Leistungsfähigkeit sind nach wie vor etwas eingeschränkt
Schon nach seinem ersten Besuch bei Gruhn kam Michael Drascher strahlend nach Hause. Noch immer bekommt er jede Woche sechs Stunden Therapie, und das seit mittlerweile vier Jahren. Dies hat Michael Drascher auch seiner begleitenden Ärztin zu verdanken, die seinen Weg von Beginn an unterstützt und begleitet. „Es bringt aber nichts, wenn man jahrelang immer das gleiche macht. Man muss die Situation zwischendurch immer wieder neu bewerten, je nachdem, wie es sich entwickelt", sagt er. Regelmäßig setzen sich die Therapeuten deshalb zusammen und überarbeiten den Behandlungsplan. Zum Dank lädt Michael Drascher sie jedes Jahr kurz vor Weihnachten zu einem selbst gekochten Menü ein. Das hätte ihm direkt nach dem Schlaganfall wohl kaum jemand zugetraut.
Inzwischen fährt Michael Drascher sogar wieder Auto. An seinem Wagen hat er dafür extra einige Umbauten vornehmen lassen: Das Gaspedal ist bei ihm links, zudem fuhr er zeitweise auch mit einem links vom Lenkrad angebrachten Schalthebel, den er mittlerweile aber wieder abmontiert hat. Das Autofahren bedeutet ein Stück Lebensqualität, doch noch wichtiger war es ihm, dass er nach 16 Monaten wieder in seinen Beruf zurückkehren konnte. Dabei hätte ihn die Krankenkasse am liebsten bereits nach seiner Reha in Heidelberg vorzeitig in Rente geschickt, weil sie davon ausgingen, dass er es nie wieder zurück zu Opel oder zu einem anderen Unternehmen schaffen würde. Allerdings unterschätzten sie seinen eisernen Willen. „Es war von Anfang an mein Ziel gewesen, wieder in meinen Job zurückzukehren. Ich wollte nicht einfach nur zu Hause herumsitzen und den ganzen Tag aus dem Fenster schauen", sagt er. Zumal aus den Arbeitskollegen längst gute Freunde geworden waren. Während der Zeit in der Reha kam fast täglich einer von ihnen zu Besuch – seine Frau musste sogar Listen erstellen, in die sich die Kollegen eintragen konnten, wer wann vorbeischauen wollte. „Das war phänomenal. Einen solchen Rückhalt habe ich noch nie erlebt. Das hat ihn auf seinem Weg ganz sicher noch zusätzlich motiviert", sagt sie.
Und trotzdem: Ganz der Alte ist Michael Drascher immer noch nicht und wird es wohl auch nicht mehr werden. Seit dem Schlaganfall ist seine Leistungsfähigkeit im Büro eingeschränkt – mehr als vier Stunden am Tag kann er nicht mehr arbeiten. Er ist jetzt auch nicht mehr Projektleiter, sondern mittlerweile nur noch Assistent. Besonders wenn viele Sachen gleichzeitig passieren oder in einem Meeting mehrere Personen durcheinanderreden, ist er mit der Situation schnell überfordert. „Ich kann jetzt nicht mehr drei, vier Sachen parallel machen, sondern alles immer schön eins nach dem anderen", sagt er. Auch Schreiben hat er seit dem Schlaganfall nicht neu gelernt. Und manchmal fällt es ihm schwer, sich auf etwas zu konzentrieren, oder sich am nächsten Tag an Dinge zu erinnern, die am Vortag besprochen wurden.
„Der Kampf ist nie vorbei", sagt Michael Drascher. „Immer wenn ich denke, ich hätte ein Problem hinter mir gelassen, taucht wieder ein neues auf." So hat beispielsweise das Versorgungsamt kürzlich seinen Grad der Schwerbehinderung von 70 Prozent auf 30 Prozent heruntergestuft. „Das macht für mich einen riesigen Unterschied, denn mit 30 Prozent wäre ich Menschen ohne Behinderung rechtlich wieder gleichgestellt. Viele Punkte, wie zum Beispiel die Steuererleichterungen, spielen kaum eine Rolle. Aber für mich als Arbeitnehmer wäre das furchtbar: Ich würde meinen Kündigungsschutz verlieren und könnte nicht – wie mit 70 Prozent – zwei Jahre eher in Rente gehen. Dass die Schwere meiner Behinderung nach so einem schweren Schlaganfall, wie ich ihn hatte, von einem Amt infrage gestellt wird, ist für mich schwer zu begreifen", sagt er.
Mithilfe seiner Frau und einer Anwältin hat Michael Drascher deshalb Widerspruch eingelegt. Und solange über diesen nicht entschieden ist, gilt weiterhin der Behinderungsgrad von 70 Prozent. „Sollte der Bescheid negativ ausfallen, was wir nicht hoffen, dann würden wir notfalls auch noch vor das Sozialgericht ziehen. Wir werden nicht klein beigeben." Mit dieser kämpferischen Einstellung hat er seinen Schlaganfall schon bislang gut gemeistert.