Die Darm-Forschung hat in den letzten Jahren enorm Fahrt aufgenommen. Die Erkenntnisse der Wissenschaft über das „zweite Hirn" steigen weiter sprunghaft an. Möglicherweise ist der Darm eine der wesentlichen Schaltzentralen für Gesundheit und Krankheit.
Seit gut einem Jahrzehnt wird der Erforschung des Darms und der Verdauung eine stetig wachsende Aufmerksamkeit in der Wissenschaft und den Medien gleichermaßen zuteil. In populären Publikationen wurde beispielsweise von der „geheimen Macht der Darmbakterien" oder vom Darm als „zweitem Hirn" gesprochen. Bücher wie „Darm mit Charme" oder „Schluck – auf Entdeckungsreise durch unseren Verdauungstrakt" über ein Thema, das früher in der Ekel-Ecke angesiedelt war und weitgehend öffentlich totgeschwiegen wurde, haben hierzulande die Bestseller-Listen erklommen. In der Forschung interessiert man sich vor allem für die Welt der Mikroorganismen, die unseren Dünn- und Dickdarm besiedeln, die als bis zu sieben Meter lange Muskelschläuche den Bauchraum ausfüllen. Früher und auch heute noch in der Umgangssprache wurden die im Darm lebenden Bakterien meist unter dem Begriff „Darmflora" zusammengefasst. Inzwischen setzt sich immer stärker der Begriff „Mikrobiom" durch, weil es sich bei den mikroskopisch kleinen Lebewesen eben nicht um Pflanzen handelt.
Jeder Mensch besitzt eine ganz spezielle Lebensgemeinschaft von Mikroben, vergleichbar dem individuellen Fingerabdruck. In den letzten zehn Jahren konnten immer mehr Bakterien identifiziert werden, mittlerweile sind zwischen 1.000 und 1.500 Spezies bekannt. Auch wenn deren Funktionen noch längst nicht vollständig geklärt sind. „Durchschnittlich beherbergt der Darm vermutlich etwa 500 Sorten, aber mancher Mensch hat nur 200, ein anderer 1.000 Bakterienarten im Darm", so Prof. Stephan C. Bischoff, Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin an der Stuttgarter Universität Hohenheim jüngst in einem „Spiegel"-Interview. „Wobei eine große Vielfalt des Mikrobioms gesundheitlich vorteilhaft ist. Je mehr Arten, desto besser." Allerdings ist in der Forschung noch völlig ungewiss, ob überhaupt und ab wann eine verringerte Vielfalt oder Diversität krankhaft wirkt. „Was genau ein gesundes Mikrobiom ist, ist tatsächlich weitgehend unklar", so die renommierte Mikrobiologin Elisabeth Bik von der Stanford University.
Bis zu 100 Billionen Mikroben sind im Darm ansässig – mit einem Gewicht von bis zu zwei Kilogramm
Zudem verändert sich das Mikrobiom ständig im Laufe des Lebens bis ins hohe Alter, wofür beispielsweise Ernährung, Stress, Medikamenteinnahmen (vor allem von Antibiotika, die bei laxem Umgang die Darmflora geradezu dramatisch verändern können) oder auch wechselnde Lebensumstände verantwortlich sind. Bis zu 100 Billionen Mikroben, zu denen neben den deutlich dominierenden Bakterien auch noch Viren, Phagen, Pilze, Hefen und Archaeen gehören, sind im Darm ansässig und bringen es zusammen auf eine Masse von bis zu zwei Kilogramm. Die Besiedlung des Darms mit Bakterien beginnt schon mit der Geburt, wahrscheinlich sogar schon im Mutterleib. Primär erbt der Mensch sein Mikrobiom daher von den Eltern, wobei vaginale Geburt und Stillen eine grundlegend abweichende Bakterien-Besiedlung im Vergleich zu Kaiserschnitt und Säuglingsnahrung zur Folge haben können. Aber auch das Umfeld oder die Hygienebedingungen, in denen die Kinder aufwachsen, können das Mikrobiom ganz entscheidend beeinflussen. Häufiger Kontakt mit Schmutz oder Keimen kann zur Ausbildung einer größeren Vielfalt an Darm-Mikroben führen.
Seit mehr als 100 Jahren ist bekannt, dass unser Darm, der durch eine ausgewogene Ernährung und regelmäßige sportive Betätigung gesund gehalten werden kann, über ein eigenes Netz aus Nervenzellen verfügt, das sogenannte enterische Nervensystem, das gemeinhin auch schon mal als „Darmhirn" bezeichnet wird, das die Bewegung des Darms steuert und das mittels des Vagusnervs mit unserem Gehirn verbunden ist. Wie die Kommunikation zwischen diesen Zentralen genau abläuft, ist der Forschung noch weitgehend ein Rätsel. Allerdings wird inzwischen immer häufiger der Darm als wichtige Schaltstelle zwischen Gesundheit und Krankheit dargestellt und so ziemlich jedes Volksleiden oder die meisten Zivilisationskrankheiten von Übergewicht, Diabetes, Rheuma, Morbus Crohn, Reizdarm, Nierensteinen, Darmkrebs, Unverträglichkeiten, Alzheimer oder Allergien bis hin zu psychischen Leiden wie Depressionen oder Schizophrenie auf das Konto einer Dysbalance, sprich Störung der Darmflora, zurückgeführt.
Obwohl es dafür bislang noch kaum fundierte wissenschaftliche Belege gibt. Dabei ist es offensichtlich, dass wir uns krank fühlen und uns auch psychisch unwohl fühlen, wenn der Darm nicht richtig funktioniert. Laut Prof. Bischoff hat eine Veränderung im Mikrobiom auch Auswirkungen auf unsere Stimmungen. Zudem räumen Experten wie der Ernährungswissenschaftler Prof. Dirk Haller von der Technischen Universität München ein, dass das Mikrobiom ähnlich wie das Erbgut ein wichtiges biologisches Instrumentarium ist, mit dem Krankheiten erklärt und künftig möglicherweise sogar geheilt werden könnten. Wobei allerdings zu bedenken ist, dass es noch ein weiter Weg bis zur gezielten Manipulation des Mikrobioms für medizinische oder gar psychiatrische Zwecke sein dürfte.
Viel wird in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren in Forschung und Medien über Sinn und Zweck von Probiotika und Präbiotika diskutiert. Probiotika sind Zubereitungen, die lebensfähige Mikroorganismen wie Milchsäure- oder Kolibakterien und auch Hefen enthalten. Präbiotika sind Nahrungsbestandteile, vor allem Ballaststoffe wie Stärke, Inulin, Oligofruktose oder Pektin, die im Dickdarm das Wachstum und die Aktivität „guter" Bakterienarten fördern sollen. Speziell um die Probiotika hat sich ein regelrechter Hype entwickelt, obwohl es laut der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit bislang keine Beweise dafür gibt, dass die in Kapsel- oder Tropfenform eingenommenen Präparate tatsächlich gesundheitsförderlich sind. Wer seine Darmflora positiv beeinflussen möchte, kann die entsprechenden Mikroorganismen genauso gut durch den Verzehr von milchsauren Produkten wie Joghurt, Buttermilch, Dickmilch, Kefir oder Sauerkraut zuführen.
Prof. Bischoff, der vor einigen Jahren auch an der Broschüre „Ein gutes Bauchgefühl" zum Thema Darm des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft mitgewirkt hatte, wies im „Spiegel"-Interview allerdings darauf hin, dass bei bestimmten Krankheiten der Einsatz von Probiotika, die das Mikrobiom jedoch nicht dauerhaft verändern können, durchaus wirkungsvoll sein kann: „Am besten belegt ist das bei Magen-Darm-Erkrankungen. Bei vielen Durchfallkrankheiten wirken spezielle probiotische Stämme vorbeugend und lindernd, vor allem bei Kindern. Auch bei ausgewählten chronisch entzündlichen Darmerkrankungen gibt es Hinweise, dass manche Bakterienarten hilfreich sind. Beim Reizdarmsyndrom werden Probiotika mitunter als unterstützende Therapie empfohlen." Schwerkranke und Immungeschwächte sollten laut Prof. Bischoff keinesfalls Probiotika einnehmen, höchste Vorsicht sei allgemein angesagt bei neuesten Probiotika, die aus Stuhlproben isoliert werden. Apropos Stuhl: Diesbezüglich haben jüngst amerikanische Kliniken spektakuläre Erfolge erzielen können bei der Stuhltransplation von Mensch zu Mensch. Die Stuhltherapie, bei der ein Erkrankter den Stuhl eines gesunden Spenders übertragen bekommt, wird dort als Behandlung gegen Diabetes und Übergewicht beworben, hat aber vor allem deutliche gesundheitliche Verbesserungen bei Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, Reizdarm und schwerer Clostrium-difficile-Infektion (einer Durchfallerkrankung) bewirkt.
30 Gramm Ballaststoffe pro Tag ist die empfohlene Menge
Da Wissenschaftler der Stanford University bei Experimenten mit Mäusen nachweisen konnten, dass ballaststoffarme Nahrung nicht nur bei den untersuchten Tieren selbst, sondern auch bei ihren Nachkommen zu einer Abnahme der Darmbakterien-Vielfalt geführt hatte, liegt der Schluss nahe, dass westliche Fast-Food-Eltern ihre verkümmerte Darmflora womöglich auch ihren Kindern weitergeben könnten. Das sah auch Prof. Bischoff in einem „Stern"-Beitrag als großes Problem an: „Je mehr Generationen eine ungesunde Ernährung praktiziert haben, desto schwieriger könnte es sein, den Schaden zu reparieren." Daher werden in der Regel die in Pulverform angebotenen Präbiotika als Hilfsmittel für die Darmgesundheit beworben. Die zugeführten Ballaststoffe dienen als Nahrung für Darmkeime, vor allem für die besonders geschätzten Bifidobakterien, wodurch diese die Ausbreitung von potenziell krank machenden Bakterienstämmen wie Kolibakterien oder Clostridien im Darmbereich begrenzen können. Ob Präbiotika wie von den Herstellern versprochen auch bei Darmträgheit, Durchfall oder Verstopfung wirksam helfen können, sei mal dahingestellt. Auch wenn es gar nicht so leicht ist, die empfohlene Menge von 30 Gramm Ballaststoffen pro Tag mit der normalen Nahrung aufzunehmen. Der durchschnittliche Verzehr liegt in Deutschland unter 22 Gramm. Daher sollte man künftig einfach mehr vollwertige Lebensmittel wie Topinambur, Artischocken, Schwarzwurzeln, Pumpernickel oder Haferkleie essen.
Bei all dem dürfen natürlich nicht die eigentlichen Funktionen des Darms vergessen werden. Der Dünndarm hat die Aufgabe, die durch Speichel und Magensäfte vorverdaute Nahrung weiterzuverarbeiten und die verwertbaren Nährstoffe über die Darmschleimhaut in den Körpern zu befördern. Dem Dickdarm obliegt es dann, die noch nicht verdauten Stoffe durch Wasserentzug einzudicken und für die Entleerung zu sammeln. Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen sind meist mit dem Dünndarm in Verbindung zu setzen, Verstopfung und Durchfall in der Regel mit dem Dickdarm. In beiden Bereichen können Blähungen oder Völlegefühl entstehen. Darmbakterien trainieren aber auch unser Immunsystem und halten Krankheitserreger in Schach. Schließlich ist der Darm unser größtes Immunorgan, es beherbergt rund 80 Prozent aller aktiven Immunzellen. Bei vielen anderen derzeit in der Mikrobiomforschung diskutierten Phänomenen sollte eine gesunde Skepsis angesagt sein. Beispielsweise beim vermeintlichen Zusammenhang zwischen Diabetes und Übergewicht mit einem weniger diversen Darmmilieu oder bei der von Neurologen in den Raum gestellten möglichen Beteiligung der Darmbakterien bei Erkrankungen wie Parkinson, Schlaganfall und insbesondere der Multiplen Sklerose.