Kaum ein anderes Naturprodukt wird derzeit weltweit so intensiv erforscht wie Algen. Sie werden schon als neuer Super-Rohstoff bezeichnet, sind nicht nur bei Wellness-angeboten beliebt, sondern auch Hoffnungsträger in der Medizin.
Statt nur mit einem häuslichen Algenbad vorliebzunehmen, träumen viele Damen von einem Wellness-Aufenthalt in einem Thalasso-Tempel. Idealerweise in der Bretagne, der weltweit führenden Region für diese spezielle Therapie, bei der, wie das vom Altgriechischen „Thálassa" („Meer") abgeleitete Wort schon vermuten lässt, sich alles um das frische Ozean-Nass dreht. Die Bretagne war der frühe Vorreiter der heute so beliebten Wellness-Sparte, das erste Institut wurde dort bereits 1899 gegründet, inzwischen gibt es in diesem Gebiet Frankreichs 15. Anwendungen auf der Basis von Meeresalgen sind längst fester Bestandteil der Thalasso-Therapie. Ursprünglich wollte man mithilfe der Vitalstoffbomben aus dem Ozean nur rheumatische Leiden lindern, doch bald schon hatte man erkannt, dass Algen den Stoffwechsel und Kreislauf anregen, das Bindegewebe straffen, Mineralstoffmängel ausgleichen oder das Immunsystem stärken können. Natürlich werden die gängigsten Thalasso-Algen-Applikationen wie das Bad, bei dem mikropulverisierte Partikel im Salzwasser verteilt sind, die Packung, bei der ein Brei auf dem gesamten Körper verteilt wird, oder die Wraps, bei denen mit Algenfluid getränkte Bandagen straff um Bauch, Po oder Schenkel gewickelt werden, inzwischen auch fern der Küste angeboten. Aber ohne frisches Meerwasser, salzige Seeluft sowie den typischen Duft von Algen und Schlick fehlen doch für das persönliche Wohlbefinden ganz entscheidende Faktoren.
Die Alge
Auch wenn die Alge gemeinhin etwas salopp als Pflanze bezeichnet wird, so handelt es sich streng genommen nur um ein in Salz- wie Süßwasser, aber auch auf feuchten Unterlagen wie Baumstämmen oder Waldböden ansässiges pflanzenartiges, zu den Eurkaryoten zählendes Lebewesen, das wie Pflanzen Fotosynthese betreibt. Es gibt mehrere Hunderttausende Algen-Arten, von denen jedoch nur ein Bruchteil, schätzungsweise ein Fünftel, bekannt und noch viel weniger, rund 800, intensiv erforscht sind. Etwa 150 Arten werden kommerziell genutzt, in der Hautpflege beispielsweise kommen bislang 50 Arten zum Einsatz. Sie unterscheiden sich ganz wesentlich in ihrer Größe, von mikroskopisch kleinen Organismen bis hin zu 1.000 Meter langen Tangen, weshalb die grobe Unterscheidung zwischen vielzelligen Makro- und einzelligen Mikroalgen gebräuchlich ist. Es werden im Wesentlichen vier Familien unterschieden: Grünalgen, Braunalgen, Rotalgen und Mikroalgen. Früher wurden auch noch die Blaualgen dazu gezählt, die aber eigentlich Bakterien sind.
Da Algen allesamt keine Wurzeln haben, nehmen sie ihre Nährstoffe wie Mineralien oder Spurenelemente aus dem nassen Umfeld durch Osmose über ihre gesamte Oberfläche auf. Dadurch können Algen die auch für den Menschen enorm wertvollen Inhaltsstoffe in sehr hohen Konzentrationen herausfiltern und speichern. Ihre Nährstoffdichte sucht im Pflanzenreich ihresgleichen. Ein Kilogramm frischer Meeresalgen enthält Aminosäuren, Mineralsalze, Spurenelemente (beispielsweise Jod, Eisen, Zink oder Selen), Vitamine (A, B1, B12, C, D, E und K), Polyphenole und Flavonoide aus rund 100.000 Liter Ozeanwasser. Das Meeresgemüse, wie die Algen auch schon mal genannt werden, kann tausend Mal mehr Jod, hundert Mal mehr Kalzium und zehn Mal mehr Kupfer oder Magnesium speichern als gängige Landpflanzen. Es gibt sogar Rotalgen, die mehr Vitamin C enthalten als Zitrusfrüchte. Bislang konnten weit über 80 verschiedene Substanzen in Algen nachgewiesen werden, wobei jede Algenart eine ganz spezielle Nährstoffzusammensetzung aufweist. Die wichtigsten Vitalstoffe, die der menschliche Organismus dringend braucht, sind jedenfalls allesamt in Algen enthalten.
Ohne Algen wäre das Leben auf der Erde wohl kaum möglich geworden. Denn Algen gehören zu den ältesten Organismen des Planeten. Wobei den größtenteils aus Chlorophyll bestehenden Blaualgen, Cyanobakterien genannt, das Verdienst zukommt, vor rund 3,5 Milliarden Jahren die ersten Sauerstoff-Produzenten der Erde gewesen zu sein. Ihnen war es zu verdanken, dass die giftige Uratmosphäre in eine sauerstoffreiche verwandelt werden konnte. Noch heute stammt jedes zweite bis dritte Sauerstoffmolekül, das der Mensch zum Atmen benötigt, aus der Fotosynthese der Algen. Algen sind damit noch immer die wichtigsten Sauerstofflieferanten des Globus. Zusätzlich helfen sie im Kampf gegen den Klimawandel, da sie der Atmosphäre Kohlendioxid entziehen und als organische Materie binden können, Algen können dabei dreimal mehr Kohlendioxid umwandeln als normale Pflanzen. Im Unterschied zu den Pflanzen können Algen übrigens keine Schadstoffe abspeichern, was in allen kommerziellen Nutzungsüberlegungen eine wichtige Rolle spielt.
Kosmetik
Bis zu zehn Millionen Tonnen Algen werden Jahr für Jahr aus den Ozeanen gefischt, der Großteil davon stammt aus asiatischen Aquakulturen, aber auch in der Bretagne gibt es große Algenzuchtanlagen. Vor allem für die kosmetische Industrie, die lange vor den Pharmakonzernen das gewaltige Heilpotenzial der Algen dank umfangreicher Forschungen erkannt hatte und vor allem auf den positiven Effekt von bestimmten Algenarten für die Haut setzt, ist die möglichst hohe Qualität der Algenernte von ganz entscheidender Bedeutung. Das Meerwasser sollte dank starker Strömungen frei von Verunreinigungen und reich an Sauerstoff sein, dazu sollte hohe Sonneneinstrahlung für günstige Wachstumsbedingungen gewährleistet sein. Da die Mineralstoffverteilung im menschlichen Blutplasma und im Meerwasser sehr ähnlich sind und der ph-Wert der Algen dem der Haut sehr nahekommt, können Kosmetikprodukte auf Algenbasis leicht durch die Ober- in die Unterhaut gelangen.
Mithilfe von im Labor nach Trocknung der Algen gewonnenen Extrakten in Pulverform, die Cremes, Lotionen oder Seren beigemischt werden, verspricht die Beauty-Industrie eine Straffung der Haut, Hilfe gegen Cellulitis, Verlangsamung des Hautalterungsprozesses oder Schutz vor Austrocknung durch Feuchtigkeits-Dauernachschub. Auch bei Juckreiz, Rötungen infolge von Neurodermitis, Schuppenflechte oder Sonnenbrand sollen Algen-Produkte für Besserung sorgen, selbst die Nägel-Regeneration soll gefördert werden können. Wobei moderne Algenkosmetik längst nicht mehr den von Ozeanküsten bekannt penetranten Meergeruch aufweist. Derzeit sehr gehypt ist die Süßwasser-Mikroalge namens Haematococcus pluvialis, genauer gesagt deren Farbstoff namens Astaxanthin, ein tiefrotes Carotinoid. Seine Moleküle haben angeblich eine extrem fett- und wasserlösliche Struktur und können daher leicht die menschlichen Hautschichten und Zellmembrane durchdringen. Astaxanthin soll auch bestens vor freien Radikalen und UV-Strahlung schützen oder Pigmentflecken reparieren helfen. Großes Aufsehen erregen derzeit auch vermeintliche Verjüngungsproteine aus Blaualgen, sie sollen eine Erneuerung der kollagenen und elastischen Hautfasern ermöglichen.
Medizin
In der Medizin- und Pharmaindustrie ist man in Sachen Algen-Einsatz noch nicht wesentlich über die Grundlagenforschung hinausgekommen, obwohl man damit bereits vor rund 30 Jahren begonnen hatte. Dennoch setzt die Mehrzahl der Experten für die Zukunft große Hoffnungen auf pharmazeutisch hochwirksame Inhaltsstoffe diverser Algen – bis hin zum Einsatz in der Krebsbehandlung oder zum Kampf gegen HIV. Als gesichert gilt, dass bestimmte komplexe Eiweißmoleküle entzündungshemmend wirken und dass andere Inhaltsstoffe effektiv gegen bakterielle Infektionskrankheiten eingesetzt werden können. Rot- und Braunalgen werden zudem bereits zur Regulierung der Blutgerinnung, zur Wundversorgung und als natürliche Antibiotika eingesetzt. Der Vielfachzucker Alginat aus der Braunalge wird in der Zahnmedizin bei Abdruckmaterialien und als Säurebinder in Magenmedikamenten genutzt. Gerüstsubstanzen der Braunalgen namens Fucoidane zeichnen sich als vielversprechendes Mittel gegen die altersbedingte Makuladegeneration, eine weit verbreitete Augenkrankheit, ab, könnten womöglich aber auch zur Behandlung von Herpes, HIV-Erkrankungen und zur Wundheilung eingesetzt werden.
Nahrungsergänzungsmittel/Ernährung
Vor allem als Nahrungsergänzungsmittel boomen derzeit weltweit Algen-Präparate. Vor allem die Blaualge Spirulina wird geradezu als Superfood in Pulver- oder Tablettenform gefeiert. Neuere Untersuchungen, beispielsweise der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, weisen die Heilsversprechungen von der Verlangsamung des Alterungsprozesses bis hin zum Schutz vor Krebs oder Virusinfektionen aber zurück und halten allenfalls eine Senkung des Cholesterinspiegels oder einen positiven Einfluss auf den Blutdruck für realistisch. In der Lebensmittelindustrie werden Algen-Inhaltsstoffe schon lange als Verdickungs- und Bindemittel, beispielsweise in Puddings, Eiscreme oder Joghurts oder als Stabilisatoren, beispielsweise in Margarine oder Frischkäse, verwendet. Die Blätter der Rotalge Nori tauchen bei den Sushi-Rollen auf. In Frankreich wird die Grünalge Ulva lactura, auch als Meersalat oder Lattich bekannt, als Delikatesse geschätzt. Menschen mit Schilddrüsenerkrankungen sollten allerdings vom Genuss von Salzwasser-Algen wegen des hohen Jodgehalts absehen. Wenn es gelingen sollte, das Meeresgemüse auch in westlichen Ländern zu einer beliebten, kalorienarmen Alternative für tierische oder andere Eiweißquellen zu machen, könnte laut Expertenschätzungen der Ernährungsbedarf von zehn Milliarden Menschen mit Algenkulturen auf gerade mal zwei Prozent der Fläche der Weltmeere gedeckt werden.
Sonstiges
Der Super-Rohstoff Alge eignet sich auch bestens zur Abwasserreinigung, zur Energiegewinnung (Algenkraftstoff), zur Textilherstellung (Mix von Algenpulver mit Zellulose), als Kunststoffersatz, zum Düngen oder als Tierfutter.