Außerirdische sind im Johannesburger Problemstadtteil Hillbrow gelandet und erobern die Welt. Die Show – eine Mischung aus Hip-Hop-Tanz, afrikanischem Ballett und politischem Gesang – kommt von jungen Menschen. Sie sind Teil eines modernen und innovativen Entwicklungshilfeprojektes, dem „Outreach Foundation Hillbrow Theatre Project".
Sechs Uhr morgens. Es ist ein ganz normaler Morgen in der südafrikanischen Millionenstadt Johannesburg. Das Thermometer hat gerade die 20-Grad-Marke übersprungen. Robert Michel macht sich mit seinem alten Peugeot auf den Weg zur Arbeit. Der 56-Jährige ist geschäftsführender Direktor der Outreach Foundation. „Ein größeres Auto kann ich hier nicht fahren", erzählt der gebürtige Deutsche, „sonst würde ich auf dem Weg nach Hillbrow überfallen, im schlimmsten Fall sogar erschossen werden." Hillbrow, das ist das ehemalige Botschafter- und Geschäftsviertel von Johannesburg. Seit dem Ende der Apartheid in Südafrika Mitte der 80er-Jahre verließen immer mehr Weiße, Geschäftsleute und Diplomaten den Bezirk. Heute ist Hillbrow ein riesiger Slum. „Überall schlafen Menschen auf der Straße, überall liegt Müll rum, man hört ständig Schüsse", sagt Michel. „An vielen Ecken wird mit Drogen aus aller Welt gedealt. Ständig fährt die Polizei mit Sirenenalarm auf und ab. Ausrichten kann sie aber nichts."
Robert Michels Büro liegt auf dem Gelände der ehemaligen deutschen Botschaft in Hillbrow. Diplomaten gibt es hier schon lange nicht mehr. Michel und sein Team leiten hier ein modernes und innovatives Entwicklungshilfeprojekt, die „Outreach Foundation", die vor 21 Jahren gegründet wurde. Die Probleme, die es in diesem Bezirk zu bekämpfen gilt, sind vielfältig – Armut, Obdachlosigkeit und Kriminalität sind nur die Spitze des Eisberges. „Viele dieser Menschen sind illegal nach Südafrika gekommen. Es sind Flüchtlinge aus Ländern wie Nigeria, Kongo, Uganda, Simbabwe oder Sambia. Ihre Zahl wird auf vier Millionen geschätzt. Ein großer Teil von ihnen lebt jetzt in Hillbrow." Arbeit findet hier so gut wie niemand. „Die Zahlen sind dramatisch. Die offizielle Arbeitslosigkeit beträgt aktuell 27,6 Prozent in Südafrika. Wir wissen allerdings, dass Millionen Menschen schon seit Jahren keine Arbeit mehr suchen, weil es einfach keine gibt. Die wahre Arbeitslosenzahl wird also irgendwo bei 40 Prozent liegen." Noch härter trifft es jugendliche Schulabgänger. „Hier findet nahezu niemand einen Job." Mit zahlreichen Projekten versucht die Outreach Foundation gegen diese Arbeitslosigkeit anzukämpfen, qualifiziert die Menschen zum Beispiel im Umgang mit Computern. „In einem anderen Projekt bilden wir Maurer aus. Das rüstet sie nachhaltig für den Arbeitsmarkt."
Probleme im Bezirk sind vielfältig
So etwas wie das Highlight der Entwicklungsprojekte der Outreach Foundation ist die Arbeit des Hillbrow Theaters. Auf einer alten Bühne, sie gehörte früher zum Goethe-Institut, proben jeden Nachmittag zwischen 20 und 40 Kinder und Jugendliche aus Hillbrow. „Das sind Kinder, die ohne uns kein Zuhause hätten", erzählt Michel. „Die würden schlichtweg auf der Straße leben. Ohne uns wären sie wahrscheinlich längst drogenabhängig oder würden trinken." Jetzt spielen sie Theater.
Die Ideen für die Stücke kommen von den Kindern selbst. Meist handelt es sich dabei um moderne Dance-Performances mit Gesang. Inhaltlich geht es vor allem um die Probleme des Bezirks Hillbrow, um Gewalt und Kriminalität. „Aber es geht noch viel weiter", weiß Christoph Ernesti, Leiter Unternehmenskommunikation beim Evangelisch Lutherischen Missionswerk (ELM) in Niedersachsen, das die Arbeit der Outreach Foundation auf zahlreichen Ebenen unterstützt und fördert. „Viele der Kinder und Jugendlichen sind ja Flüchtlinge aus afrikanischen Kriegsgebieten. Mit dem Theater verarbeiten sie ihre Traumata, die sie im Krieg oder auf der Flucht bekommen haben." Das sei so, da sie sich ja auch inhaltlich in die Stücke mit einbringen können. „Da sind Kinder und Jugendliche ja viel unkomplizierter als Erwachsene", weiß Ernesti. „Die spielen den Schrecken von Gewalt, Mord und Vergewaltigung sozusagen auf der Bühne raus." So auch im aktuellen Stück mit dem Titel „Hillbrowfication".
Ortswechsel: das Staatsschauspielhaus in Dresden, Ende Mai dieses Jahres. 18 Jugendliche und ihre Trainer und Betreuer aus Hillbrow sind auf Einladung des „4. European Our Stage Festivals" an die Elbe geflogen. Das Hillbrow Theater ist bereits zum zweiten Mal in Deutschland. 2018 war man am Gorky Theater in Berlin zu Gast, nun gibt es zwei „Hillbrowfication"-Aufführungen in Dresden. Kuratorin Miriam Scholl nach der Vorstellung: „Das ist ein atemberaubendes Theaterprojekt. Ich finde, das ist künstlerisch und inhaltlich faszinierend." Die Story: Außerirdische sind in Hillbrow gelandet. Die Utopie ist brutal: Überleben kann nur, wer tanzen kann. Es gibt zahlreiche heroische Schlachten, bei „Hillbrowfication" ist das Leben eben ein endloser Tanz-Battle. Die Zuschauer sind begeistert von der Aufführung und geben minutenlang Standing Ovations. Die Show selbst ist irgendetwas zwischen Hip-Hop-Performance, afrikanischem Ballett und eindringlichem politischem Gesang. Passend dazu wechseln die Akteure nahezu minütlich die aufwendigen, farbenfrohen Kostüme. „Das sind wir", sagt Betreuer Cincla Michael Mkhawancezi nach der Show. „Das Stück drückt die Brutalität unseres Lebensalltags, gepaart mit den Erfahrungen unseres bisherigen Lebens, aus." Mkhawancezi, mittlerweile 35 Jahre alt, weiß, wovon er redet. Er kam selbst Anfang der 2000er-Jahre als Flüchtlingskind nach Hillbrow. „In der Outreach Foundation und bei dem Theaterprojekt habe ich meine Heimat gefunden", erzählt er sichtlich bewegt. Er ist geblieben. Ein Gefühl, das Direktor Robert Michel nachvollziehen kann. „Mir läuft auch jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn ich die Truppe sehe. Das sind ja alles Laien, dazu mit einer extrem schwierigen Geschichte. Wenn ich das sehe, weiß ich, dass ich hier in Südafrika absolut richtig bin."
Zwei Gastspiele in Dresden geplant
Die Outreach Foundation in Johannesburg beweist, wie moderne Entwicklungsarbeit heute funktionieren kann. „Dazu sind natürlich zuverlässige Partner extrem wichtig", sagt Michel. Und so hat der Deutsche, der mit seiner Frau seit über 25 Jahren in Afrika lebt, ein ganzes Netz von festen Unterstützern gesponnen.
„Unsere wichtigsten Partner sind Brot für die Welt und das Evangelisch Lutherische Missionswerk in Niedersachsen. Daneben gibt es eine Reihe südafrikanischer Einrichtungen und Banken, die unsere Arbeit fördern." Die Zusammenarbeit mit der Kirche ist historisch gewachsen. „Auf dem Gelände der früheren deutschen Botschaft gab es ja früher eine lutherische Gemeinde, die von deutschen Einwanderern gegründet wurde. Die Gemeinde besteht bis heute ", erklärt ELM-Sprecher Christoph Ernesti. „Da ist klar, dass wir uns als moderne Kirche seit Jahren engagieren." Die Zusammenarbeit gehe weit über Geldzuwendungen hinaus. „Wir unterstützen die Outreach Foundation auf verschiedensten Ebenen. So wurde auf dem Gelände ein Trauma-Zentrum errichtet. Hier wird unter anderem Drogenabhängigen und Flüchtlingen mit gezielter Beratung geholfen." Außerdem entsende das ELM jedes Jahr Mitarbeiter nach Südafrika, die als Freiwillige dort arbeiten.
„Das ist absolut entscheidend für uns. Ohne all diese Hilfe aus Deutschland würde es uns schon lange nicht mehr geben", sagt Michel. Entscheidend sei dabei, dass sowohl Brot für die Welt als auch das ELM die Outreach Foundation stets als Partner auf Augenhöhe behandeln. „Anders würde das nicht funktionieren."
Diesen Gedanken der Partnerschaft spürt man inzwischen überall in der Outreach Foundation. Selbst beim Hillbrow-Theater-Projekt wird sie groß geschrieben. Als sich beim Auftritt in Dresden eine Achtjährige am Fuß verletzt, verzichtet die ganze Gruppe auf einen Nachmittag in der Dresdner Altstadt und eine wichtige Probe. Stattdessen verbringt die Theater-Truppe den Tag am Krankenbett. Trainer Mkhawancezi: „So was macht man halt, wenn man sein Zuhause gefunden hat!"