Das Kandidaten-Casting läuft. Die SPD sucht in einem ziemlich einmaligen Verfahren ihre erste Doppelspitze. Nina Scheer und Karl Lauterbach hatten sich bereits sehr früh gemeldet, mit klaren inhaltlichen Schwerpunkten in der Sozial- und Umweltpolitik.
Frau Scheer, Herr Lauterbach, Wettbewerb belebt bekanntlich das Geschäft. War das auch ein Motiv für Ihre Kandidatur?
Scheer: Wir waren ja relativ früh mit unserer Kandidatur. Da war die Vielfalt noch nicht so absehbar.
Dass es jetzt mit der Option der Doppelspitze um die Neuaufstellung der Partei geht, war stimmig. Deshalb haben wir uns beworben.
Lauterbach: Für uns stand von vorneherein sehr stark im Vordergrund, weshalb wir das machen. Wir haben uns überlegt, dass wir eine Neuausrichtung der Partei veranlassen wollen, im Wesentlichen in den Bereichen Sozialpolitik sowie Energie- und Umweltpolitik, auch innere Sicherheit. Soziale Gerechtigkeit ist mein Thema seit 15 Jahren. Wir haben in diesem Bereich als SPD sehr viel gemacht, aber die großen Probleme sind nach wie vor ungelöst. Jetzt ist meine Partei verpflichtet, klar zu sagen, wie wir die verfestigte Ungleichheit, die wir mittlerweile haben, aufgelöst bekommen. Und in der Umweltpolitik, wo wir dramatische Probleme haben, die noch aufwachsen, ist unser Eindruck, dass die Partei da nicht gut aufgestellt ist. Wir beide sind Sachpolitiker, gelten als Experten, ich selbst in der Sozialpolitik, Nina Scheer ist Umwelt- und Energieexpertin, und wollen somit die Partei in dieser Richtung stärker aufstellen. Dafür wollen wir mit der Basis reden und überzeugen. Deshalb haben wir nicht lange gewartet, um für den Parteivorsitz zu kandidieren, denn uns ist auch klar, dass es so nicht weitergehen kann.
Scheer: … und wir wollen gewinnen.
Lauterbach: An Ehrgeiz und Zuversicht mangelt es nicht.
Nicht nur aus den Reihen der Jusos kommt die Kritik, es gehe jetzt doch wieder nur um Köpfe und weniger um Inhalte. Eine zutreffende Beschreibung?
Scheer: Das würde ich nicht so sehen. Eine Mitgliederbefragung bringt aber nun mal eine Bewerbungsphase mit sich. Und das braucht eben ein paar Wochen Zeit. Dass es jetzt zeitlich in das Umfeld von Landtagswahlen fällt, hat sich ja niemand ausgesucht, das hat sich durch den Rücktritt von Andrea Nahles so ergeben. Man kann sich ja nicht aussuchen, wann es passt. Wenn die Notwendigkeit da ist, muss man es passend machen.
Es gab viele auch spöttische Kommentare zum Verfahren. Das Magazin „Cicero" will gar einen „Fachkräftemangel bei der SPD" ausgemacht haben.
Lauterbach: Das stimmt so nicht. Wir haben eine Menge Fachkräfte. Aber oft ist es so, dass die Fachkräfte nicht in eine Entscheidungsposition vordringen. Oft zählen da andere Dinge mehr. Das ist aber nicht nur bei uns so. Als Fachpolitiker ganz an die Spitze zu gelangen ist schwer. Dafür muss auch das politische Handwerk, das über die Fachpolitik hinausgeht, lernen. Wir haben also keinen Mangel an Fachpolitikern, sondern oft zu wenig Einfluss der Fachpolitik auf die Entscheidungen. Wie gesagt: nicht nur bei uns. Da haben auch Medien, wie der „Cicero", ihren Anteil, die das beklagen, aber selbst nur alle fünf Ausgaben mal einen fachpolitischen Beitrag haben.
Wenn es schon aus Ihrer Sicht keinen Mangel an Fachpolitikern gibt, dann vielleicht einen Mangel an Grundsatzprogramm?
Scheer: Das glaube ich nicht. Es ist eher die Frage, was ist in der praktischen Umsetzung an Verständnis übrig geblieben von dem, was wir an Grundsätzen im ‚Hamburger Programm‘ haben? Wenn man sich das zu Gemüte führt, was ich jetzt auch noch mal gemacht habe, sieht man, dass das durchaus noch sehr aktuell ist. Das Problem ist nicht, grundsätzliche Aussagen zu treffen, sondern das in die Tagespolitik zu übertragen und zu schauen, was heißen denn unsere Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität? In Bezug auf die Umweltpolitik und die Energiepolitik heißt das aus unserer Sicht, dass man von den fossilen Ressourcen wegkommen muss. Die sind endlich, und dann ist die Rechnung ganz einfach: Wenn immer mehr Menschen auf immer weniger Ressourcen zurückgreifen, dann hat man Verteilungskämpfe, die man nicht mehr aufhalten kann, und die zu schlimmsten Kriegen führen können. Ganz zu schweigen vom Klimawandel, dem zweiten großen Grund, warum man die Ablösung von fossilen Energien braucht. Eine freie Welt, eine gerechte Welt, eine solidarische Welt ist nicht vorstellbar, wenn man diesen Schritt nicht schnell schafft. Deswegen brauchen wir einen beschleunigten Umstieg auf erneuerbare Energien. Das schafft im Übrigen zukunftsfeste Arbeit.
Eine Doppelspitze für die SPD – das ist schon eine gewöhnungsbedürftige Vorstellung.
Lauterbach: Ich glaube, dass wir die wenigsten Probleme damit haben. Wir kennen uns schon sehr lange, wir diskutieren diese Themen schon seit langer Zeit. Daher ist der Gedanke für uns nicht gewöhnungsbedürftig. Im Gegenteil. Es tut einfach gut, wenn man wichtige Entscheidungen intensiv miteinander diskutieren kann. Eine Doppelspitze funktioniert, da bin ich mir sicher, wenn die Teams gut aufeinander abgestimmt sind. Das Verfahren, über das jetzt ein bisschen gespottet wird, finde ich nicht so schlecht. Es ist ein bisschen zu lang, aber es wird sich etablieren, und wir werden das beim nächsten Mal wieder so machen – wenn wir jemals wieder abgelöst werden (beide grinsen).
Dass man Teams hat, die eine gemeinsame Idee haben, wie es weitergehen soll, finde ich besser, als wenn Lager oder Strömungen abgebildet werden.
Seit Beginn des Verfahrens schwingt immer die Koalitionsfrage mit. Ist das eine glückliche Kombination?
Scheer: Ich glaube, man kann die inhaltliche Diskussion nicht ganz von dieser Frage trennen, deshalb kommt die Frage nach der Groko auch immer wieder durch. Wenn man ehrlich und zielgerichtet Dinge anpacken und bestimmte rote Linien nicht überschritten haben möchte – anders gesagt, wenn man bestimmte Dinge für unabdingbar hält und dann merkt, dass man schon bei den Schritten zu diesen Zielen so herbe Auseinandersetzungen hat, dass drängende Lösungen liegen bleiben, dann ist das nicht verantwortbar. Das gilt etwa im Sozialbereich für die Bürgerversicherung oder im Energiebereich für die ganzen Hemmnisse und Mengenbegrenzungen, wenn es um den Ausbau von erneuerbaren Energien geht und um deren Verwendung auch für Mobilität und Wärme. Deshalb kommt man automatisch aus den Themen heraus immer wieder zu der Frage, ob man dieses Bündnis guten Gewissens aufrechterhalten kann.
Lauterbach: Ich sehe das genauso. Man kann die Wahl der Vorsitzenden nicht von der Frage Groko trennen. Wir beide haben ja relativ radikale Vorschläge, in der Energiepolitik und der Sozialpolitik gehen wir relativ weit weg von dem, was in der großen Koalition denkbar wäre. Stichworte Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer, Ende der Mengenbegrenzung bei Windkraft und Solarenergie. Es sind viele Dinge, die erwiesenermaßen mit der großen Koalition nicht möglich sind. In sechs Jahren haben wir diese Vorschläge immer wieder abgelehnt bekommen. Damit ist der Beweis erbracht: In einer großen Koalition geht das nicht. Wenn wir jetzt antreten mit für uns wichtigen Punkten, und von diesen ist – inzwischen in der dritten großen Koalition – keiner möglich, dann kann ich nicht sagen, ich lasse das mit der großen Koalition offen. Es sei denn, wir hätten Zeit, die Probleme später zu lösen, also zu sagen, wir machen noch eine Zeit lang große Koalition weiter und kommen später zu den wichtigen Problemen zurück. Das ist aber völlig absurd. Die große Koalition ist zwar nicht die Mutter allen Übels, aber das Ende aller Lösungen. Die große Koalition verursacht zwar die Probleme nicht, verhindert aber ihre Lösungen.
Angenommen, Sie setzen sich durch: Bekommt dann Juso-Chef Kevin Kühnert seine Kapitalismusdebatte?
Scheer: Ich glaube nicht, dass ein Parteivorsitz die Diskussion über Positionen ermöglicht oder unterdrückt.
Lauterbach: Wir haben die Diskussion doch jetzt schon.
Scheer: Letztendlich steckt in den zitierten Äußerungen und Reaktionen aber auch einiges drin, das auch in unserer Programmatik wiederzufinden ist. Man muss nicht unbedingt an Verstaatlichung gehen. Wenn man aber schaut, dass ein Teil der Misere aus den letzten Jahrzehnten auf Privatisierungen zurückzuführen ist, dass der Verkauf öffentlichen Gutes vielerorts als Modell für eine bessere Politik gehalten wurde, sieht man heute vielerorts, dass das ein Fehler war. Der Druck ist immer noch da, wie ich aus Gesprächen mit Kommunalpolitikern mitbekomme. Es gibt einen Konflikt zwischen Wirtschaftlichkeitszwang und dem Anspruch, Daseinsvorsorge zu betreiben. Dazu gehört etwa eine flächendeckende gebührenfreie Kinderbetreuung oder auch Senioreneinrichtungen – das muss Kommunen ökonomisch ermöglicht werden; das gehört zu einer solidarischen Gesellschaft. Da gibt es schon ein paar gemeinsame Nenner mit Kevin Kühnert. Er hat natürlich ein paar Begriffe gebracht, auf die man sich eingeschossen hat. Man darf aber nicht den Fehler machen, Dinge, die man dringend angehen muss, gleich mit in diese Schublade zu werfen. Das wäre verfehlt. Wir brauchen eine Gemeinwohlökonomie, auch für unser Steuersystem.
Lauterbach: Sein Beispiel war absurd. BMW zu verstaatlichen …
Scheer: … lenkt auch einfach ab.
Lauterbach: Was ich sehe, ist, dass die Ökonomie immer mehr in alle Bereiche des Lebens vordringt, vom Krankenhaus bis hin zur Partnerwahl. Wir müssen uns die Frage stellen: Was wollen wir eigentlich? Ich bin dafür, dass man eine Art Gemeinwohlökonomie aufbaut, die den Kapitalismus ergänzt oder auch ein Stück weit zurückdrängt. Dazu gibt es gute und interessante Ansätze, und da werden wir auch im Laufe unserer Kampagne Vorschläge machen, wie so etwas in Deutschland gehen könnte. Da geht es auch um die Rolle der Kommunen. Wir haben die Kommunen so knapp gehalten, dass viele ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen, pleite sind. Die haben Altschulden, die so gravierend sind, dass sie im Nothaushalt sind. Nehmen sie Leverkusen. Dort sitzt Bayer. Deren Gewinne waren so groß, dass sie einen Wahnsinnskauf gemacht haben (Monsanto) und dabei einen Wert vernichtet haben von vielleicht 60 Milliarden. Die Kommune Leverkusen hat einen Nothaushalt und kann sich nichts leisten. Die Betriebsmannschaften von Bayer können sich Spieler leisten, die Millionen kosten. Die Vereine der Stadt sind so pleite, dass sie sich keinen Rasenplatz mehr leisten können. Da läuft etwas schief – und dafür brauche ich keine abstrakte Kapitalismuskritik, sondern muss mir überlegen: Wie kann ich die Kommune wieder in die Lage versetzen, dass sie ihre Dinge wieder anbieten kann?