Blue Note – das legendäre Jazzlabel – wird 80 Jahre alt. Wer auf einer der Scheiben mit seiner Musik vertreten sein durfte, gehörte zum Jazz-Adel. Weniger bekannt ist, dass das Unternehmen von zwei Berliner Freunden gegründet wurde.
Seit der Serie „Babylon Berlin" haben viele Zuschauer eine Ahnung, wie es im Berlin der 1920er-Jahre aussah. In diesem Hexenkessel des Vergnügens beherrschte ein Musikstil die Szene: der Jazz. Hier erlebte der 17-jährige Alfred Löw die Musik des schwarzen Jazzpianisten Sam Wooding mit Band, live im Berliner Admiralspalast. Für ihn und seinen späteren Partner Francis Wolff war das ein Schlüsselerlebnis. „Es war der Beat – er fuhr mir direkt in die Knochen", resümierte er rückblickend. Dieser Beat ließ beide nicht mehr los.
Alfred Löw (1908-1987), später Lion, und Francis Wolff (1908-1971) lernten einander schon als Teenager kennen. Ihr jüdischer Glaube machte es ihnen nach 1933 zunehmend schwer, im nationalsozialistischen Deutschland zu leben. Alfred entschied sich 1937 als erster der beiden, nach Amerika zu gehen. 1939 mietete er bereits mit seinem gegründeten Label Blue Note ein Tonstudio in New York an und nahm eine Session mit Albert Ammons und Meade Lux Lewis auf: „Mr. Freddi Blues". Der später sehr bekannte Blue-Note-Slogan „The Finest in Jazz Since 1939" bezieht sich genau auf diese erste Session. Francis Wolff gelang seine Flucht nach New York 1939 auf einem der letzten nicht von der Gestapo kontrollierten Schiffe.
Wieder vereint, arbeiteten sie gemeinsam für ihr Label Blue Note Records.
Alfred, Talentsucher und Produzent, schuf mithilfe des kongenialen Toningenieurs Rudy Van Gelder den unverwechselbaren Blue-Note-Sound. Sein tontechnischer Qualitätsanspruch war legendär und entsprach voll und ganz dem von Lion. Francis entwickelte mit seinen Fotografien und den Ideen des Grafikers Reid Miles für die Cover den einzigartigen Look der Blue-Note-Platten. Die Anfänge waren bescheiden, und richtig reich wurden sie niemals.
Alfred Lion setzte in der Zeit des Boogie Woogie auf charismatische Interpreten, auf Legenden, die seiner Musikbegeisterung entsprachen. Mit George Gershwins „Summertime", gespielt von Sidney Bechet, gelang dem Label der erste Hit, der Durchbruch auf dem Platten-Markt. Hört man die Original-Einspielung auf Youtube, versteht man sofort die Philosophie der Blue-Note-Gründer. Es geht um die Ursprünglichkeit des Rhythmus, um die Authentizität der Musiker, den Charakter des Gesamtwerkes. Alfred Lion ging sogar so weit, die Musiker für ihre Proben zu bezahlen, wenn er sie mitschneiden durfte. So entstanden häufig die intensivsten Aufnahmen.
Oft holten sie für die live aufgenommenen Musikaufnahmen in den frühen Morgenstunden nach ihren nächtlichen Club-Auftritten gute afroamerikanische Musiker in ihr Studio. Zu den Sessions gab es dann noch ein wenig Bourbon, so dass die Stimmung noch mehr auflockerte, so wird erzählt.
Bis nach dem Krieg durchlebten die beiden Ex-Berliner Musik-Enthusiasten Lion und Wolf trotzdem keine einfache Zeit. Materialknappheit während des Krieges ergab finanzielle Schwierigkeiten. Jedoch war zu keiner Zeit die Wirtschaftlichkeit des Labels das Hauptmotiv ihres Schaffens, es war immer die Leidenschaft zur Musik, die sie durchhalten ließ. Und sie schafften es, indem sie ihrer Idee treu blieben und erlebten, dass der Jazz in der neuen Zeit endlich als Kunst anerkannt wurde, ja sogar zum Hype wurde.
Beide flüchteten vor den Nazis nach Amerika
Anfang der 50er-Jahre, nach dem Erscheinen der ersten Vinylplatten von Blue Note, engagierte Alfred Lion Musiker wie Horace Silver, die Art Blakey Band oder Clifford Brown für das Label. Sie durften sich ganz nach ihren musikalischen Vorstellungen ausleben. Lion war der Visionär, der Trendsetter. Er spürte junge Talente auf, gab ihnen die Chance, ihre musikalischen Ambitionen auszuprobieren und mit den Platten endlich in der Öffentlichkeit Gehör zu finden.
Musiker wie Joe Henderson, Freddie Hubbard oder Jimmy Smith gehörten zu seinen Entdeckungen und wurden Ende der 60er-Jahre bereits als Jazzlegenden gefeiert. Nie hat sich Lion in die Musikinterpretation seiner Musiker eingemischt. Für ihn galt in seinem legendären Dialekt nur eine Bitte: „It must schwing!" – sein Geheimrezept des Erfolgs.
Rudy Van Gelder brachte Thelonious Monk, Miles Davis und John Coltrane zu Blue Note. Zwischen 1953 und 1967 spielten Wolff und Lion fast alle Studioaufnahmen unter der Leitung von Van Gelder ein. Beide entwickelten und prägten kommende Jazzstile, wie auch Bebop, der musikalisch mehr Swing in den Jazz einbrachte. Der große Erfolg in den 50er- und 60er-Jahren basierte auch auf den Fotos von Francis Wolff. Er fotografierte leidenschaftlich während der Musikaufnahmen, stets mit einem das Blitzlicht hochhaltenden Arm. Der junge Grafiker Reid Miles nutzte die schwarz-weißen Fotografien von Wolff und kombinierte sie in einem ausgewogenen Zusammenspiel mit der Typografie und den neusten Entwicklungen im Design. Es entstanden charakteristische Blue-Note-Platten- und Cover, die in ihrer künstlerischen Modernität und Einmaligkeit zum unverwechselbaren Markenzeichen avancierten.
1965 verkauften Alfred Lion und Francis Wolff Blue Note an die Plattenfirma Liberty, und Alfred ging in den Ruhestand. EMI kaufte 1979 die Firma und stellte Blue Note ein. 1985 gab es eine Neugründung. Alte Künstler wie McCoy Tyner machten neue Aufnahmen, und junge Musiker wie Joe Lovano oder Greg Osby konnten sich bei Blue Note große Reputation verdienen. Großen kommerziellen Erfolg hatte das Label mit Norah Jones, und etablierte Künstler wie Van Morrison, Al Green und Anita Baker kamen hierher.
Was brachte das Label bis Ende der 60er-Jahre damals zum Klingen? In einer Zeit, in der in den USA Rassismus ein Thema war? Die Antwort ist einfach: Die Selbstverständlichkeit, menschlich miteinander umzugehen, das Vertrauen, sich in seiner Profession anzuerkennen und zu akzeptieren, sich gegenseitig zu fördern. Das gelang Alfred Lion und Francis Wolff mit Blue Note – unabhängig von der Hautfarbe oder der Religion. Der Ton macht eben die Musik.